Nach einer Ewigkeit erhob er sich von seinem Platz und ging zurück zum Auto. Das lange Sitzen hatte seine Beine steif werden lassen, aber die Strecke zum Auto belebte sie wieder. Die Hosenbeine waren inzwischen wieder fast getrocknet. Socken und Schuhe zog er sich erst im Auto wieder an, trotz des steinigen Weges zum Parkplatz.
Ohne weitere Umwege fuhr er zur Klinik.
Lin lag immer noch regungslos mit geschlossenen Augen in ihrem Bett, als er den Raum betrat. Auf dem Gang hatte er eine Schwester abgefangen und nach ihrem Zustand gefragt. Die Werte hatten sich im Laufe der letzten zwölf Stunden deutlich verbessert. Ein gutes Zeichen. Und tatsächlich hatte ihr Gesicht heute eine gesündere Farbe, als noch am Vortag.
Bob trat zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Er erinnerte sich an Justus' Worte. Es fiel schwer, ihr den Wunsch abzuschlagen. Ja, das klang ganz nach Lin. Es war ihm schon immer schwergefallen, sie nie ins Vertrauen zu ziehen. Vor ihr zu verbergen, was ihn so belastete. Er wollte sie nie mit seinen Problemen belasten. Mit dem, was damals passiert war. Wenn er schon so darunter litt, wie hätte sie sich dann erst gefühlt? Außerdem hatte er gehofft, dass der Schmerz irgendwann vergehen würde. Wenn er nur lange genug wartete, würde es schon wieder alles gut werden. Die Zeit heilt alle Wunden, hieß es doch immer.
Aber auf diese Heilung hatte er bisher vergebens gewartet. Das hatte er jetzt erkannt.
»Eigentlich müsste ich sauer auf dich sein«, murmelte er. »Du hast innerhalb weniger Wochen meinen über Jahre mühsam aufgebauten Schutzwall zum Einsturz gebracht. Einfach so, nur mit einem Fingerschnippen. Und dann verschwindest du einfach und lässt mich die Scherben allein aufkehren.« Er strich mit dem Daumen sanft über ihre Wange. »Aber ich kann dir einfach nicht böse sein.«
Dann wandte er sich ab und trat an das Fenster. Von hier aus konnte er den weitläufigen Park überblicken, in dem er vereinzelt Patienten und ihre Begleitungen spazieren gehen sah.
»Ich war gerade bei Justus«, begann er zu erzählen. Ein freudloses Lachen drang aus seiner Kehle. »Es war ein Fiasko. Wir haben uns angeschrien. Wer weiß, wie es weiter eskaliert wäre, hätte ich nicht die Flucht ergriffen. Vielleicht war es keine gute Idee, jetzt schon zu ihm zu gehen. Aber wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, bereue ich es nicht. Es war irgendwie wie ein Weckruf. Ich hab mich bisher immer nur auf mich fixiert und dabei völlig verdrängt, wie es Justus und Peter wohl gehen muss. Mit dem ganzen Mist.«
Er lehnte sich gegen den Fensterrahmen und blickte auf die Spaziergänger, ohne sie wirklich zu registrieren. Vor seinem inneren Auge erschienen Bilder, an die er sich schon viel zu lange nicht mehr zurückerinnert hatte. Bilder einer glücklichen, unbeschwerten Zeit. »Ich weiß gar nicht mehr, wann wir uns kennengelernt haben. Seit ich denken kann, waren wir drei immer zusammen anzutreffen gewesen. Unzertrennlich. Irgendwann hatte Justus die Idee mit dem Rätselclub, aus dem dann ›Die drei Fragezeichen‹ wurde.« Er schmunzelte bei der Erinnerung. »Ich glaube, Peter und ich haben lange nicht begriffen, welches Ausmaß Justus' Spinnerei annehmen würde. Und Peter hätte sicherlich abgelehnt, wenn er nicht plötzlich mitten drin gewesen wäre. Er war ein echter Angsthase, musst du wissen. Überall hat er Geister gesehen, obwohl wir mehr als einmal deren Nicht-Existenz beweisen konnten. Justus fing dann immer mit seinen großspurigen Reden an und erklärte ihm, welcher Trick hinter dem angeblichen Geist steckte.«
Er lachte tonlos auf und fuhr fort. »Wir haben echt viel zusammen durchgemacht. Mehr als einmal haben wir bis zum Hals in der Scheiße gesteckt. Aber immer ist es gut ausgegangen. Nicht zuletzt, weil wir uns immer aufeinander verlassen konnten.«
Er spürte, wie das altbekannte Zittern wieder in seine Finger zurückkehrte und atmete tief durch. »Außer bei unserem letzten Fall. Da war alles anders. Es ist alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte. Ich kann dir nicht sagen, was genau passiert ist. Ich erinnere mich daran, dass ich jemanden beschattet habe und verschwinden musste, weil man mich entdeckt hatte. Im Auto habe ich dann noch Justus informiert. Und ab dann ist nichts mehr. Nichts außer einer großen Leere. Als Nächstes wache ich im Krankenhaus auf. Meine Erinnerung an die Tage dazwischen ist vollkommen ausgelöscht. Geblieben ist die blanke Panik beim Anblick meiner besten Freunde.«
Er stockte und fuhr sich nervös mit den Händen über die Oberarme. »Das Gefühl ist unbeschreiblich. Mir wird immer noch schlecht, wenn ich daran zurückdenke. Ich dachte, ich sterbe. Diese Panik hat einfach alles andere überlagert. Keine Ahnung, was da mit mir passiert ist. Ich habe ihre Anwesenheit nicht ertragen und den Kontakt abgebrochen. Als der Unfall passierte, war die Schule sowieso schon so gut wie vorbei, alle Prüfungen erledigt. Ich war auch nie wieder dort, weil ich die letzten Wochen des Schuljahres im Krankenhaus verbracht hatte. Als ich dann nach Seattle bin, habe ich mich in die Arbeit für die Uni gestürzt, um mich abzulenken. Habe die Wochenenden in Bars verbracht und versucht meine Gefühle zu vergessen. Ich dachte, wenn ich nur genug andere Leute kennen lerne, verblassen die Erinnerungen an meine alten Freunde. Eine Zeitlang schien das auch zu funktionieren. Niemand erfuhr etwas von den Alpträumen. Ich habe schließlich immer darauf geachtet, nachts alleine in meinem Bett zu liegen. Jeder kannte nur den immer gut gelaunten Bob, der für jede Party zu haben ist und sich unter Menschen wohl fühlte. Und nicht den, der nachts schweißgebadet und schreiend aufschreckt. Bis du kamst.«
Ein Lächeln erschien in seinem Gesicht. »Du hast mich sofort durchschaut. Du warst die erste, die von den Alpträumen erfuhr und sie miterlebte. Du hast als einzige die andere Seite zu Gesicht bekommen. Und du hast dich nicht davon abschrecken lassen. Ich habe dir gegenüber nie ein Wort darüber verloren, was mir passiert ist. Ich wollte dich damit nicht belasten und wenn ich ehrlich bin, wollte ich auch nie wieder darüber nachdenken, geschweige denn reden. Aber wenn du mich angesehen hast, hatte ich das Gefühl, du weißt über alles Bescheid. Du hast mir geholfen, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ohne, dass du es wusstest, einfach nur, weil du für mich da warst.«
Langsam wandte er sich vom Fenster ab und blickte auf das Krankenbett. Er stockte.
Ihre grünen Augen lagen auf ihm. Müde und erschöpft, aber definitiv geöffnet. Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Lin!« Hastig trat er an ihr Bett und berührte vorsichtig ihr Gesicht. »Du bist wach!«
»Hey.« Ihre Stimme war nicht mehr wie ein Flüstern.
»Wie geht es dir?«
»Beschissen.« Sie grinste schief. »Ich hab Durst.«
Er griff zu einem Wasserglas, das die Schwestern für sie bereitgestellt hatten und führte es vorsichtig an ihre Lippen. Dankbar trank sie ein paar Schlucke und ließ den Kopf wieder erschöpft ins Kissen sinken.
Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme etwas klarer, aber immer noch sehr leise. »Das war eine wunderschöne Liebeserklärung gerade.« Sie lächelte. »Warum muss ich erst ins Koma fallen, bis ich so etwas höre?« Bob lief rot an, was ihr Lächeln noch verstärkte. »Danke!«, flüsterte sie.
Er griff nach ihrer Hand und küsste sie. Schweigend verharrten sie und sahen sich in die Augen. Bob konnte sein Glück kaum fassen. Sie sprach mit ihm. Sie hatte ihre Augen wieder geöffnet. Sie war wieder wach. Dann stutzte er.
»Wie lange bist du schon wach?«, fragte er, befallen von einer leisen Ahnung.
»Lange genug«, antwortete sie nur, immer noch lächelnd. Sanft drückte sie seine Hand.
Ihre Augen bedeuteten ihm, dass kein weiteres Wort nötig war. Bob nickte. Er spürte, wie eine zentnerschwere Last von seinen Schultern fiel. Er hatte sich den Kummer von der Seele reden wollen, dabei aber nicht damit gerechnet, dass ihm wirklich jemand zuhören würde. Sie hatte jedes Wort gehört. Er würde diese Bürde nicht mehr alleine tragen müssen. Und überraschenderweise war er erleichtert.
Erschöpft verschränkte er die Arme auf der Bettkante und legte den Kopf darauf. Er spürte, wie ihre Hand durch seine Haare fuhr und in seinem Nacken liegen blieb.
»Rede mit ihnen«, hörte er ihre Stimme.
»Wenn Justus nach der Aktion heute überhaupt noch mit mir sprechen will«, murmelte er in den Stoff der Bettdecke.
»Das wird er. Es wird Zeit, ein paar Fragen zu beantworten.«
Er sagte nichts. Genoss nur die Berührung ihrer Finger in seinem Nacken. Er wusste, sie hatte Recht.
DU LIEST GERADE
Dämonen der Vergangenheit (Drei Fragezeichen Fanfiction)
Fanfiction☆ Gewinner der Amby Awards 2023 ☆ Was muss geschehen, damit man seinem bisherigen Leben von einem Tag auf den anderen den Rücken kehrt und jeden Kontakt abbricht? Eyleen Andrews steht vor einem Rätsel. Eigentlich lebt sie das Leben, das sie sich i...