12 - Zufall

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„Was für ein ungewöhnlicher Zufall." Ich ließ eine Fingerkuppe über den vergilbten, handgeschriebenen Zettel auf einer Kiste gleiten und überlegte mir, dass die Abkürzung CHX wohl für En Chaplix stand.

Matt nahm das fragmentierte Stück von dem Vic behauptete, es stamme von einer Öllampe, und betrachtete es. „Was meinst du?"

„War En Chaplix nicht der Friedhof, wo die Statue von Triton und der unglücklichen Nymphe gefunden wurde?" Der Name war in den letzten Tagen viel zu häufig aufgetaucht, als dass ich noch an Zufall glaubte.

„Eine Nereide, nicht eine einfache Nymphe, aber du hast recht." Vic zog eine Kiste aus dem Gestell und blies den Staub vom Deckel. Eine Spinne huschte davon und suchte sich ein sichereres Versteck tiefer im Gestell zwischen zwei altersgelben Kartonboxen. Die Archäologin ignorierte den ungebetenen Bewohner und öffnete den Deckel, um den Kisteninhalt zu mustern. Über ihre Schulter erkannte ich Dutzende von Keramikscherben, die feinsäuberlich in Plastiksäckchen verpackt waren.

Vic zog eines der Säckchen heraus, studierte die Beschriftung und legte es zurück an seinen Platz. „Ich kann mir bloß nicht vorstellen, warum der Fundort dieses Lampenfragments eine Rolle spielen soll. Wir sprechen hier von einer der größten und wichtigsten Grabungen. Sie lieferte Tonnen von Fundobjekten." Sie schob die Box zurück an ihren Platz und zog eine andere heraus. „Schwierig rauszufinden, woher dieses einzelne Stück stammt. Wir werden in der Datenbank nachschauen müssen."

„Gib mir die Inventarnummer, ich lasse eine Suche laufen." Deborah nahm das Objekt und kehrte zum Büro im vorderen Teil des Depots zurück. Alex und Chiara folgten ihr.

Matt berührte mich am Arm. „Warum glaubst du, dass es eine Verbindung zwischen diesem kleinen Fragment von Töpferware und der Fisch-Mann Statue gibt? Und was ist mit dem Geist? spürst Du die Dame in Weiß?"

„Ich nehme ihre Präsenz wahr, aber nur sehr schwach. Aber ich bin sicher, dass deine App sie auch registrieren würde. Nur bezweifle ich, dass die weiße Frau sich zu dieser Tageszeit zeigen wird. Wir werden nach dem Einnachten zurückkommen müssen, um die Untersuchung fortzusetzen." Ich verließ den Seitengang, um ebenfalls nach vorn zu gehen. Vic schob die Kiste zurück an ihren Platz und folgte uns.

Matt sah mich von der Seite an, seine Brauen fragend hochgezogen. Ihm war klar, dass ich gerade dabei war, einen Plan zu schmieden. Ich suchte nach den passenden Worten. Immerhin war er derjenige, der mir beim Lösen dieses Rätsels am Besten helfen konnte. „Also, ich finde, En Chaplix taucht zu oft auf, als dass es noch ein Zufall sein könnte. Aber abgesehen davon, dass die Scherbe von dort kommt, bin ich nicht sicher, ob das Relief wirklich der Schlüssel zum Geheimnis ist. Erinnerst du dich an die Zeitung, die ich gestern aufgehoben habe?"

Er nickte, und Vic, die uns eingeholt hatte, grinste mir zu. „Die ich wegwerfen wollte?"

„Genau. Ich habe sie gestern Abend studiert und darin einen spannenden Artikel über die Ausgrabung in En Chaplix gefunden. Was mir besonders ins Auge fiel, war die Erwähnung einer Fluchtafel, welche bei der nördlichen memoria erfunden wurde, also dort, wo auch das Triton-Relief herkommt. Kannst du mir vielleicht etwas mehr darüber erzählen?"

„Hm, ich bin nicht sicher. Kann sein, dass ich was darüber gelesen habe, aber das liegt eine Weile zurück." Vic betrat das Büro und wir folgten ihr zu Deborah, die an ihrem Bildschirm die Datenbank aufgerufen hatte. „Deb, kannst du dich an eine defixio aus En Chaplix erinnern?"

„Eine Fluchtafel?" Die ältere Frau sah vom Bildschirm auf und rückte die Brille zurecht. „Nun, da du es erwähnst, glaube ich mich zu erinnern. Das war ein epigraphisches Rätsel, welches einige Wellen warf vor ein paar Jahren. Es war vor meiner Zeit hier, ich müsste in der Bibliothek nachsehen."

Der Fluch des Raben | Wattys 2023 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt