28 - Lucius

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Aventicum, Civitas Helvetiorum, im Jahr des consul suffectus Lucius Naevius Surdinus [Herbst 30 CE], Bestattungsplatz beim Westtor

Tiefhängende Wolken verschleierten den Himmel und im Gras glänzten die feinen Tröpfchen eines Nieselregens. Ein Rabe krächzte auf dem Ast eines blattlosen Baums beim öffentlichen Bestattungsplatz. Der schwarze Rauch, der sich über dem Scheiterhaufen zusammenballte, schien den Vogel nicht im geringsten zu stören. Als der Wind einen der beißenden Schwaden in seine Richtung drückte, hüpfte er auf einen weiter entfernten Ast und wendete sich wieder dem Geschehen zu.

Lucius beobachtete den Raben und fragte sich, ob das wohl ein Bote der Götter war. Vielleicht von Apollo, war er nicht der Gott, der von Raben begleitet wurde? Und hatte Cinna nicht darauf bestanden, zu Apollo zu beten, damals in der Nacht, als sie ermordet wurde? Er zuckte die Schultern und zog seinen dünnen Mantel enger um sich. Nein, das war bestimmt nur ein Vogel, der begierig darauf hoffte, etwas von dem Essen zu stibitzen, das die Trauernden für das letzte Mahl des Verstorbenen spendeten.

Ein kalter Windstoß fuhr durch die Äste des Baums und stach wie scharfe Nadeln durch Lucius' feuchte Kleider. Die Flammen des Scheiterhaufens flackerten auf, und der Rauch trieb Tränen in seine Augen. Beschämt wischte er sie weg und begrüßte den Centurion Gaius Vitellius, der durch die Gruppe der Trauenden auf ihn zukam. Auf seinem Mantel glänzten die Regentropfen wie Perlen.

„Ave, Centurion."

„Ave, Lucio, mögen die Götter mit Wohlwollen über deine Schritte wachen." Diese Begrüßung war deutlich freundlicher als alles, was Lucius jemals von seinem Vorgesetzten gehört hatte. Ob der Centurion ahnte, wie sehr in Marius' Tod ihn getroffen hatte?

Gaius Vitellius stoppte neben ihm und betrachtete den Scheiterhaufen mit einer nachdenklichen Falte auf der Stirn. „Er war dir ein guter Freund, richtig?" Die Stimme des älteren Mannes lies keine Regung erkennen und verriet nicht, was er über den Tod des miles dachte. Er mochte ihn als einen Deserteur sehen, aber Lucius war zu erschöpft und verletzt, um irgendwelche Spiele zu spielen.

„Ja, das war er. Mein ältester Freund und ein zuverlässiger Kamerad solange ich ihn kannte." Der saure Geschmack der Schuld stieg in Lucius' Hals auf. „Ich wünschte — ich wünschte nur, ich hätte ihm nicht von Cinnas Tod erzählt, damals, als wir uns im Lager von Vindonissa begegneten. Ich dachte, es sei meine Pflicht, aber wenn ich mein Wissen für mich behalten hätte, würde er vielleicht noch leben. Vielleicht hätte er sogar seine Liebe zu dem Mädchen im Lauf der Zeit vergessen können."

„Ich bezweifle das. Und wer weiß, vielleicht wäre sein Leben noch kläglicher gewesen als sein Tod, am Ende." Der Centurion rieb sich das glattrasierte Kinn. „Ich habe ein Gerücht gehört, dass Marius noch lebte, als Du ihn gefunden hast?"

Lucius nickte und blinzelte die Feuchtigkeit aus den Augen. „Aye, das stimmt."

Es schmerzte, sich die Szene in Erinnerung zu rufen, aber er öffnete seine Gedanken und ließ die Bilder fließen. Dieser Platz trug schließlich den Namen ‚Feld der Trauer' — wo, wenn nicht hier und jetzt, war die Zeit, Erinnerung an einen Freund zu teilen, seien sie gut oder schlecht?

„Sie hatten bis zum Tod gekämpft, Marius und Flavius Otacilius Parvus. Ich frage mich, wie er den Edelmann dazu brachte, sich auf ein Duell mit einem Legionär einzulassen. In der Legion tun sie nichts anderes als den Kampf zu trainieren, zu verwunden, zu töten. Aber egal. Otacilius war bereits jenseits jeder Hilfe, als wir eintrafen, und einer seiner Sklaven war ebenfalls tot. Marius' Schwert steckte tief in seiner Brust."

Die blutige Szene trat vor seinem geistigen Auge hervor und Lucius schluckte den Klumpen Galle in seinem Hals herunter, bevor er seine Erzählung fortsetzte. „Die Eingeweide des zweiten Sklaven waren über das Feld verteilt. Er versuchte, sie zurück in seinen Rumpf zu stopfen, aber seine Augen wirkten schon gläsern. Es war klar, dass ihm nicht mehr zu helfen war. Mario selbst hatte einen tiefen Schnitt von einem Dolch hinten im Oberschenkel und verblutete rasch. Sie müssen ihn zusammen angegriffen haben, wobei einer von hinten zustach. Pio und ich versuchten, die Blutung zu stoppen, aber es war vergeblich."

Der Fluch des Raben | Wattys 2023 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt