26 - Telefonanruf

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Die nächsten Minuten brachten mich ans Ende meiner Nerven. Ich ging in dem kleinen Kreis der Kerzen auf und ab und überprüfte zum zig-sten Mal die Zeit auf meinem Smartphone. Wenn wir das Ritual vor Sonnenaufgang beenden wollten, mussten wir bald damit beginnen. Aber ohne Paul, oder zumindest Marius, waren all unsere Vorbereitungen nutzlos.
„Vic, hast Du eine Ahnung, was ihn davon abhalten könnte, hierher zu kommen? Bis jetzt folgte er oder besser gesagt Marius immer der Lampe, sobald sie vollständig zusammengesetzt war."

„Ja, das hast Du gestern bereits gesagt. Deshalb habe ich die Scherbe zurück an ihren Platz im Depot gebracht und die Lampe — Mist." Sie presste mit aufgerissenen Augen eine Hand auf den Mund, während ihre Wangen sogar im Kerzenlicht merklich blass wurden.

„Was ist?" Eine düstere Vorahnung machte sich wie ein schwarzes Loch in meinem Magen breit.

„Ich glaube, ich habe einen dummen Fehler gemacht. Bevor ich letzte Nacht nachhause fuhr, fragte ich mich, was Paul wohl machen würde. Ich kam darauf, dass ihn wohl nichts von einem weiteren Einbruch abhalten konnte. Deshalb nahm ich die Lampe mit nach Hause, um sicherzustellen, dass er sie nicht bekommt. Ich bezweifelte, dass er in ein mehrstöckiges Appartementhaus einbrechen konnte, ohne bemerkt zu werden."

Ihre Überlegungen hatten Hand und Fuß. Ich hätte selbst darauf kommen müssen.

Sie rieb sich die Augen. „Ich fürchtete, dass er problemlos die Lampe und die Scherbe zusammenfügen konnte, wenn beide im Depot blieben. Er ist immerhin ein professioneller Konservator. Deshalb hielt ich meinen Plan für eine clevere Idee. Ich wohne ja nicht weit weg, bloß zwanzig Autominuten."

Nun fiel der Groschen auch bei mir. „Aber zu Fuß wären es mehrere Stunden."

Vic nickte. „Bestimmt. Ich habe die Distanz nie gemessen, aber ich denke, es müssen so um die fünfundzwanzig Kilometer sein."

„Er könnte demnach zu weit weg sein, um uns rechtzeitig zu erreichen." Ich überschlug im Kopf die Zahlen. „Wenn Paul die Kontrolle hätte, würde er fahren. Aber ich glaube, inzwischen hat Marius die Oberhand in dieser unglücklichen Beziehung. Als römischer Legionär wird er zu Fuß gehen." Ich schüttelte den Kopf. „Wie konnte mir das bloß entgehen. Natürlich verfolgt er die Lampe um jeden Preis."

„Nicht dein Fehler, San. Ich habe die Lampe aus dem Depot gebracht, ohne dir Bescheid zu geben. Ich mache mich auf den Weg und suche unseren verlorenen Paul." Sie hob ihre Tasche auf.

„Warte." Matt packte sie am Arm. „Wie willst Du wissen, wo Du suchen musst?Getrieben von einem römischen Geist marschiert er womöglich querfeldein. Lass uns mal davon ausgehen, dass er noch nicht bei dir zuhause angekommen war, als Du dort wieder weg bist. Er hat dann vermutlich umgedreht um wieder der Lampe zu folgen. Das heißt, er kann sich im Moment irgendwo in dem Dreieck zwischen dem Depot, deinem Haus und hier aufhalten."

Ich nickte und versuchte, mir die Topographie vorzustellen. „Er wird den kürzesten Weg nehmen, oder einen, den Marius noch kennt aus der Zeit vor seinem Tod. Ritter Guillaume, können sie einen anderen Geist aus der Distanz lokalisieren?"

Der Ritter zupfte sich nachdenklich den Bart. „Kann sein, wenn er nahe genug und vor allem stark genug ist. Sollen wir den Legionär mit der Kutsche jagen?"

„Sag ich doch. Lasst uns aufbrechen." Vic deutete in Richtung des Parkplatzes. „Wenn wir uns aufteilen kann Matt mit dem Bus der Hauptstraße folgen und ich fahre auf den landwirtschaftlichen Wegen über die Felder."

Vic hatte recht, selbst wenn ich zögerte, den Platz unter der Brücke zu verlassen, nun da alles für das Ritual vorbereitet war. Aber ich musste rasch eine Entscheidung fällen. „Gut, das scheint die einzige Option zu sein." Mir war immer noch nicht wohl dabei, aber ich hatte keinen besseren Vorschlag. „Wir haben maximal eine halbe Stunde. Matt, Du nimmst Ritter Guillaume mit und ich fahre mit Vic. Er oder ich könnten in der Lage sein, den Geist zu spüren, wenn wir in seine Nähe kommen."

Der Fluch des Raben | Wattys 2023 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt