24 - Gegenfluch

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Während der nächsten Stunde beugten Vic und ich uns über meinen Laptop, studierten unterschiedliche Online-Übersetzer und die wenigen lateinischen Textbücher, welche die Bibliothek enthielt. Wir hatten bereits mehrere Seiten mit Notizen vollgekritzelt, alles mehr oder wenig kreative Versuche, einen Gegenfluch zu formulieren. Oder einen Segen, wie Guillaume es nannte. Am Ende entschieden wir uns für einen kurzen Dreizeiler, der viel offen ließ für Interpretation. Ich studierte die Schlussversion, die in Vics gut lesbarer Handschrift in der Ecke eines Blatts stand.

Marius et Cinna
ut maledictio frangatur
libertas aeterna

Vic las den Text laut vor und seufzte. „Denkst Du, das kann funktionieren? Maledictio hat eine Zweitbedeutungen von Missbrauch und Verunglimpfung. Das ist nicht genau dasselbe."

„Ich bin nicht sicher, aber das Ganze scheint mir doch recht geradlinig zu sein. Frangatur bedeutet zerbrechen. Ich glaube, das trifft ziemlich genau, was wir sagen wollen."

„Stimmt, und der letzte Teil über ewige Freiheit hat einen schön allgemeinen Klang. Vermutlich ist das Ganze gar nicht so schlecht."

Ich grinste. „Sicherlich, und ich bin bereit, es mit dieser Formulierung zu probieren. Sie ist einfach genug, dass ich dran glaube, nicht mit versteckten Bedeutungen eine unerwünschte Rückkoppelung auszulösen."

„Besteht die Möglichkeit? Wäre das gefährlich?" Ihre Augen weiteten sich.

Ich war versucht, ihr eine Geschichte meiner Großmutter über fehlgeschlagene Magie zu erzählen. Aber ich entschied mich dagegen. Es würde mir nicht helfen, wenn ich beim Ritual Zuschauer hatte, die vor Angst zitterten. „Ich denke nicht. Wir versuchen ja, nicht mit dem originalen Fluch herumzuspielen. Deshalb mag ich das Wort maledictio. In der ursprünglichen Form bedeutet es, über jemanden schlecht zu reden. Das ist deutlich weniger dramatisch als jemanden zu verfluchen. Was denkst Du, wollen wir nachsehen, ob die Männer einen vernünftigen Ersatz für eine Tafel gefunden haben?"

Sie schüttelte den Kopf. „Einen Moment noch. Lass mich zuerst den Text in die römische Schrift transkribieren. Wir wollen das ja möglichst authentisch aussehen lassen."

Ich bezweifelte, dass die Götter sich an modernen Buchstaben stören würden, schaute aber fasziniert zu, wie sie den Text in Grossbuchstaben auf ein neues Blatt schrieb und dabei alle E mit II ersetzte und die U mit V.

„Ich bin nicht sicher, dass das hilft, aber es sieht viel authentischer aus, schon fast römisch." Sie studierte die fertige Version mit einem Stirnrunzeln. „Ehrlich gesagt verstehe ich immer noch nicht, warum wir das hier tun. Es geht gegen alles, was ich jemals geglaubt habe."

Das konnte ich sehr gut nachvollziehen. „Nun, es ist auch alles, was ich immer versucht habe, in meiner Berufswahl zu vermeiden. Ich habe aus gutem Grund Geschichte studiert und anschließend in einer Bibliothek gearbeitet. Bis vor einigen Monaten habe ich meine spirituelle Erbschaft abgelehnt und versucht, sie komplett aus meinem Leben zu verdrängen."

Ihre Brauen wölbten sich und die Zweifel standen ihr ins Gesicht geschrieben.

„Es ist wahr. Aber das Leben hält immer wieder eine Überraschung für uns bereit. Und manchmal müssen wir einfach akzeptieren und sehen, wohin ein neuer Weg uns führt."

„Da hast Du wohl recht." Sie faltete das Blatt mit der fertigen Nachricht zusammen. „Die Begegnung mit Cinna und dem Ritter-Gespenst waren ziemliche Augenöffner für mich. Was denkst Du, wie lange Paul schon besessen ist?"

„Nach der miserablen Laune zu urteilen, die er bei unserem Besuch auf der Grabung an den Tag legte, war er damals schon ziemlich tief in die Geschichte verstrickt. Paul hatte wohl noch etwas Kontrolle, aber ich wette, ein Teil seines unmöglichen Verhaltens war einfach die normale römische Frauenverachtung. Ich bin auch überzeugt, dass es Marius' Geist war, der Béa und Chiara erschreckte während er noch auf eurer Grabung herumirrte. Er muss also Paul zwischen diesem Zeitpunkt und unserem Besuch als Opfer ausgewählt haben."

Der Fluch des Raben | Wattys 2023 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt