13 - Geistergeschichten

54 14 0
                                    

Während das Husten von Vics Auto in der Ferne verklang, suchte Alex in Matts Auftrag eine Leiter, eine Bohrmaschine und eine Kabelrolle zusammen. Ich holte unterdessen für meinen Partner die Reisetasche mit den Geistersensoren aus dem Bus während er seinen Laptop auf einem der Arbeitstische aufklappte. Deborah nannte ihm das WiFi-Passwort. Mir war klar, dass Matt nun alles hatte, was sein Herz begehrte. Dies beließ mich für den Moment als überflüssige Statistin. Ich kehrte deshalb in den hinteren Teil des Depots zurück, um den Geist auf meine Art zu lokalisieren.

Nun, da ich nicht mehr von einer Gruppe von Menschen umgeben war, fiel es mir leichter, die Reaktion meines paranormalen Sinns zu analysieren. Ich ging mehrere Male den Mittelgang auf und ab und konzentrierte mich auf das Kribbeln in meinem Handgelenk. Ein substanzloser Windstoß kräuselte die Haare auf meinem Unterarm. Ich spürte diese Zeichen der Gegenwart eines Geists fünf oder sechs Meter im Umkreis der Stelle, wo Vic die Scherbe gefunden hatte. Der Rest des Depots schien mehr oder weniger sauber zu sein, mit einigen verblassenden Spuren übernatürlicher Aktivität, die sich für mich nicht genauer fassen ließen und vielleicht schon Jahre oder Jahrzehnte alt waren.

Zufrieden mit meinen Beobachtungen kehrte ich zu Matt zurück, der in eine Diskussion mit Alex vertieft war. Gerade erklärte er, wie seine Sensoren funktionierten. Der Lagermeister war eifrig bemüht, uns zu helfen. Gemeinsam bestimmten wir die günstigsten Standorte für die Sensoren, damit sie nicht nur den Hauptgang, sondern auch den Ort abdeckten, wo der Geist zuletzt erschienen war. Ich hielt die Leiter während Matt seine Erfindungen platzierte.

Alex sah zu und reichte ihm wenn nötig Werkzeuge. Nun, da er überzeugt war, dass wir ihn nicht auslachen würden, erzählte er freimütig von seinen Begegnungen mit der weißen Frau. Während ich ihm zuhörte, konkretisierte sich mein Bild dieses Geists. Ich kam zum Schluss, dass sie eher scheu war und sich nicht für die Lebenden interessierte. „Hast Du je herausgefunden, was sie in diesem Raum überhaupt sucht?"

Alex kratzte sich am Kinn. „Nein, keine Ahnung. Sie erscheint jeweils nur, um kurz darauf wieder zu verschwinden. Zumindest solange jemand hier drin ist und sie beobachtet. Sie ist auch immer still, ich have sie nie stöhnen gehört, oder sprechen oder singen." Er zögerte einen Moment, bevor er die Schultern zuckte. „Manchmal sah ich sie fast jede Nacht, aber dann konnte es auch sein, dass sie sich monatelang nicht blicken liess. Aber meistens treibt sie sich an dem Ort herum, wo auch Vic sie gesehen hat. Ich habe mich immer gefragt, warum."

„Manche Geister sind an einen Ort gebunden, oder an ein Objekt, das in ihrem Leben oder Tod eine wichtige Rolle spielte." Laut meiner verstorbenen Großmutter konnte es natürlich auch eine Person oder ein Ereignis sein, aber es brachte uns auch nicht weiter, wenn ich Alex meine ganzen gesammelten Geister-Weisheiten weitergab. Ich war mehr daran interessiert, was er zu denn Besonderheiten dieses Geists sagen konnte. „Könntest Du mir alle Stellen zeigen, wo du sie schon beobachtet hast?"

„Klar, kein Problem."

Es stellte sich heraus, dass der Geist die rechte Seite des Gebäudes bevorzugte. Zudem schien die weiße Frau tatsächlich meist in dem Umkreis zu erscheinen, den ich vorher abgesteckt hatte. Um auf Nummer sicher zu gehen, überprüfte ich die Etiketten an den betreffenden Gestellen und Kisten. Sie enthielten alle Material aus den Ausgrabungen in En Chaplix.

Matt kam zum gleichen Schluss. „Du hattest recht, San. Alles deute auf eine enge Beziehung zwischen unserem Geist und diesem Ort, En Chaplix. Wo auch immer das liegt."

„Soviel ich weiß war das eine der Grabungen im Rahmen des Autobahnbaus." Alex zeigte stirnrunzelnd auf den vordern und linken Teil des Gebäudes. „Nur eine einzige glaubhafte Geschichte soll sich da vorne angespielt haben."

Ich folgte ihm zu einem Arbeitstisch, der mit Verpackungsmaterial und einer Etikettiermaschine ausgerüstet war.

„Mein Vorgänger Tony hat mir erzählt, dass er dem Geist einmal genau hier gegenüberstand während er die Stapel neu eingegangener Funde registrierte."

Der Fluch des Raben | Wattys 2023 ShortlistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt