5. Selbstmitleid

363 7 2
                                    

Die nächsten Tage war ich ein menschliches Wrack. Da ich sowieso nicht viel zu tun hatte, wechselte ich die meiste Zeit zwischen Bett, Sofa und Kühlschrank hin und her und schämte mich zu Tode. Jetzt, da ich es komplett vermasselt hatte und keine Chance mehr sah, den Kontakt zu ihm aufrechtzuerhalten, wurde mir bewusst, dass ich mich bereits verknallt hatte. Mir kamen immer wieder die Tränen. Vor Scham, aber auch vor Herzschmerz. Ja, ich weinte um einen eigentlich fremden Mann, den ich nur aus dem Internet kannte und der nicht einen Bruchteil so viel über mich wusste wie ich über ihn.

Tatsächlich wünschte ich mir mittlerweile, er würde überhaupt nicht wissen, dass ich existiere. Das wäre mir viel lieber als das, was passiert war. Ich hatte Tommi Schmitt, mit dem ich bisher nicht mehr als ein paar Sätze im Chat ausgetauscht hatte, eine offensiv flirty Nachricht geschickt. Mit lauter Tippfehlern. Mit Kuss-Emoji. Und mit dem schlimmsten Foto der Welt. Selbst, wenn er mich ganz nett gefunden hätte... Das war zu viel, zu schell, zu früh, zu peinlich. Ich wollte im Erdboden versinken.

Am Sonntagvormittag klingelte es überraschend an meiner Tür. Ich ging an die Sprechanlage. "Ja?", fragte ich matt. "Lou, ich bin's." Marlie. "Lass mich rein, ich mache mir Sorgen." Ich drückte auf den Türöffner. Mit schnellen Schritten kam meine beste Freundin die Treppe hinauf und musterte mich. "Was ist los mit dir? Du hast mir seit unserem Treffen im Sommerby auf keine Nachricht geantwortet, gehst nicht an dein Handy. Habe ich etwas falsch gemacht?" - "Oh Gott nein, es ist doch nicht wegen dir. Sorry, dass du das dachtest. Mein Handy ist aus, ich... will es gerade nicht sehen."

Tatsächlich war mein Handy seit dem besagten Donnerstag aus. Akku leer. Ich hatte einfach keine Energie, es wieder aufzuladen. Und auch Angst vor meinen Gefühlen, die aufkommen würden, wenn ich die pinke Kamera wiedersehen würde, die mich an mein Desaster erinnerte. "Diese Worte von Münchens TikTok- und Insta-Queen? Das glaub ich erst, wenn ich es sehe." Marlie zog ihre Vans aus und schaute sich suchend um. Im Schlafzimmer wurde sie fündig. Da lag es, mein Handy, ausgeschaltet und mit dem Display nach unten. "Tatsächlich. Bist du krank? Noch dazu siehst du schrecklich aus." Ich lachte auf, auch wenn mir gar nicht danach zumute war.

Als wir mit zwei dampfenden Tassen Hafercappucchino in meiner Küche saßen, erzählte ich ihr die ganze Geschichte. Wie gerne ich den Podcast hörte, wusste sie. Dass ich bei vielen Promis und Influencern hin und wieder auf die Instagram-Storys reagierte, war für Marlie auch nichts Neues. Doch dass ich von einer ganz bestimmten Person immer mehr zurück bekam, hatte ich ihr nie erzählt. "Aber wahrscheinlich macht er das bei vielen. Er hat so viele Follower:innen, natürlich antwortet er davon einigen. Das ist sein Job. Ich glaube, ich habe mich da viel zu sehr reingesteigert. Das ist mir gerade irgendwie total peinlich", flüsterte ich.

"Spinnst du?", entgegnete Marlie. "Lou, ja, er hat viele Follower:innen. Ja, er bekommt viele Nachrichten. Und ja, sicher wird er auch einige am Tag beantworten. Aber dieser Mann hat dir trotz der Masse an Nachrichten regelmäßig geantwortet. Er hat dir akribisch die passenden Emojis rausgesucht. Er hat sich sogar gemerkt, dass xLou_it diejenige ist, die kurz vor der Abgabe ihrer Masterarbeit steht. Und wann sie sie abgeben muss! Lou, das ist nicht normal."

"Ja, ich glaube auch, ich bin nicht ganz normal." Wir lachten. Dann verzog ich das Gesicht. "Mag ja sein, dass er mich tatsächlich wahrgenommen hat. Das ändert aber nichts daran, dass es jetzt schneller wieder vorbei ist, als es angefangen hat." Ich erzählte Marlie von meinem Schockmoment am Donnerstag und wieso ich diesen Chat nie wieder öffnen werde. Sie biss sich auf die Lippe. Ich wusste genau, was das hieß - sie verkniff sich das Lachen. "Marlie, man. Mir ist war noch nie im Leben etwas so peinlich. Und noch dazu bin ich wahnsinnig traurig, dass ich die Chance verpasst habe, ihn näher kennenzulernen. Auch wenn diese Chance winzig klein war." - "Es tut mir leid, Lou. Aber weißt du, ich glaube, es ist alles nicht so schlimm wie es sich anfühlt. Ich finde es eigentlich ganz sympathisch." - "Sympathisch?? Ich bin komplett mit der Tür ins Haus gefallen. Er weiß nun, dass ich mitten in der Nacht an ihn denke - nur, weil er mir gefühlt drei Nachrichten geschrieben hat. Ich wirke wie ein krankes Fangirl! Noch dazu war es eindeutig, dass ich einen über den Durst getrunken habe."

"Du sagst es doch selbst", antwortete Marlie. "Du bist mit der Tür ins Haus gefallen. Ja - es war vielleicht etwas früh und... definitiv eine spezielle Art der Interessensbekundung." Marlie grinste und nahm meine Hand. "Aber es ist doch so: Wenn er dich wahrgenommen hat, du ihm auf deinem Profilbild gefallen hast und er gerne mit dir geschrieben hat, dann wird ihn das nicht abgeschreckt haben. Dann wird er vielleicht sogar froh sein, dass du so offen warst." Ich versteckte mein Gesicht hinter meinen Händen. "Und wenn nicht?", fragte ich. Marlie atmete durch. "Dann hast du Gewissheit. Aber ich glaube, dann wäre auch ohne deinen betrunkenen Flirtversuch nicht mehr daraus geworden." Ich schluckte. Marlie war immer ehrlich. Und dafür liebte ich sie.

Zum Abschied drückte sie mich fest. "Jetzt hör auf, in deinem Selbstmitleid zu versinken, okay? Nimm deinen Mut zusammen und schreib ihm nochmal. Dann wirst du wissen, was er darüber denkt."

Als Marlie weg war, stellte ich unsere Tassen in die Spülmaschine. Anschließend räumte ich den Wohnzimmertisch leer, auf dem sich in den letzten Tagen viel angesammelt hatte. Leere Chipstüten, dreckige Teller, ein Berg Taschentücher und zwei meiner Lieblingsbücher. Nachdem ich die gesamte Küche geputzt, die Dusche entkalkt und mein Bett frisch bezogen hatte, merkte ich, was ich da tat. Ich zögerte die Konfrontation hinaus.

Also atmete ich tief durch und steckte mein Handy ans Ladekabel. Ich gab meinen Code ein und mein Startbildschirm erschien. Es dauerte ein paar Sekunden, bis alle Benachrichtigungen luden, die in den letzten Tagen eingetrudelt waren. Ich scrollte durch die Banner: Sieben Anrufe von Marlie, dazu 36 WhatsApp-Nachrichten von ihr, drei SMS von meiner Mutter, neun E-Mails und eine Mitteilung von Instagram.

tommischmitt hat dir eine Nachricht gesendet.

Più bella cosa (Tommi Schmitt)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt