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Isidora beugt sich über Olivia, ihr Gesicht dunkel doch ihre Augen funkeln vor Wut.
„Ich dachte du verstehst! Ich dachte du bist bereit, Opfer zu bringen, um Unschuldigen zu helfen! Stattdessen verkriechst du dich hinter den großen, leeren Worten der Hüter!", zischt ihre kalte Stimme durch die Dunkelheit. Olivia will sich aufrichten, sie will sich wehren, sich verteidigen, aber wie immer ist sie wie erstarrt.
„Bitte, nicht er. Bitte lass ihn heute nicht kommen", wiederholt sie panisch in ihren Gedanken und weiß doch, dass die dunkle, warme Männerstimme sich zur kalten von Isidora gesellen wird, noch bevor sie tatsächlich ertönt.
„Du bist schuld dass sie stirbt – Du trägst daran genauso die Schuld wie die, die ihr Leid verursacht haben!"
Olivia öffnet den Mund, sie schreit. Es nützt nichts. Hinter Isidora erscheinen weitere Gestalten: Bekannte und unbekannte. Inferi, Kobolde, riesige Wächter in eisernen Uniformen. Professor Fig. Anne. Alle strecken begierig die Hände nach ihr aus, wollen die Magie, die sie so dringend brauchen, aus ihr heraus reißen...

Olivia erwachte von ihrem eigenen Schreien. Sie zwang sich, aufzuhören, doch erst nach einigen Sekunden schaffte sie es. Keuchend holte sie Luft und registrierte, dass ihre Zimmergenossin Poppy auf ihrem Bett saß und sie traurig und resigniert ansah.
„Geht es wieder?"

Olivia atmete mehrere Male tief durch und sah ihre Freundin entschuldigend an. Sie sah müde aus. Vom Bett auf der anderen Seite des Raums hörte sie nur ein entnervtes Schnaufen und ärgerliches Gemurmel. Olivia konnte es ihren Mitschülerinnen nicht verdenken.

„Es tut mir leid. Ich habe heute zum Einschlafen extra einen Traumlos-Trank genommen, aber ich schätze, sobald er die Wirkung verloren hat, naja..."
„Und du kannst dich wieder nicht erinnern?" Poppys Blick schwankte zwischen Besorgnis und Erschöpfung.
Olivia dachte an die Gesichter der Traumgestalten, die sie in ihrem ganzen Leben nicht würde vergessen können.

„Nein, leider nicht", sagte sie gefasst „und jetzt ab ins Bett mit dir. Du musst nicht jede Nacht aufstehen, das weißt du doch."
Poppy seufzte, murmelte etwas Unverständliches und taumelte zurück in ihr Bett.
Einige Minuten starrte Olivia auf die holzvertäfelte Decke ihres Schlafsaals. Sie atmete tief ein und spürte, wie ihr Puls sich langsam beruhigte. Es roch genauso wie immer; nach Erde, Holz, Pflanzen und nach den Kräutern, die Adelaide gerade am liebsten räucherte.

Sie sah auf die Uhr: Es war 4:46 Uhr. So leise sie konnte, zog sich Olivia ihren Umhang über den Schlafanzug, schlüpfte in die Schuhe und huschte aus dem Schlafsaal in den Gemeinschaftsraum von Hufflepuff. Ohne sich lange aufzuhalten, durchquerte sie den menschenleeren Raum, der sie immer ein wenig den Bau eines Waldtieres erinnerte und schlüpfte durch das Fass auf den kalten steinigen Flur.

Was hatte es für einen Sinn, den Rest der Nacht schlaflos im Bett zu liegen. Olivia kam es vor, als hätte die die letzten zwei Wochen, die ersten beiden Wochen ihres sechsten Schuljahrs auf Hogwarts die meiste Zeit in ihrem Bett verbracht.

Sie besuchte den Unterricht, aß etwas in der Großen Halle, fütterte ihre Tierwesen, legte sich in den Schlafsaal und wenn sie nach Stunden in den Schlaf fand, wurde sie dort von den immer gleichen Alpträumen heimgesucht.

Olivia wollte etwas anderes fühlen als dieses taube Entsetzen, das sich einfach nicht legen wollte. Letztes Schuljahr war sie ständig unterwegs gewesen; tagsüber, nachts; in, um und außerhalb von Hogwarts.
Sie wanderte ziellos durch das große Schloss, das Hallen ihrer Schritte war ein Geräusch, das sie von früheren nächtlichen Streifzügen noch gut kannte.

Olivias wandelte ohne dass sie darüber nachdachte eine Wendeltreppe empor, die große Treppe hinunter, durch einen riesigen Saal, an Statuen vorbei – das empörte Getuschel der Portraits im Lichtschein ihres Zauberstabs stoisch ignorierend.

Als ihre Beine plötzlich stoppten, brauchte sie einen Moment, um zu registrieren, dass sie unbewusst geradewegs zur Krypta gelaufen war. Olivia schauderte. Gerade dieser Ort nach einem Alptraum wie eben?
Schließlich zuckte sie ergeben die Schultern und tippte mit dem Zauberstab gegen das magische Uhrwerk, um die Tür in den geheimen Raum zu öffnen, der so viele Erinnerungen beherbergte.

Im Schatten der BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt