Epilog

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Olivia lehnt sich zurück und hält ihr Gesicht in die Sonne, dass sich im Großen See spiegelt.

Seit sie aus dem Krankenflügel entlassen ist, kann sie nicht genug vom Sonnenlicht bekommen und sitzt so die meiste Zeit draußen auf dem Boden.

„Ein Glück ist es August. Ich wäre verrückt geworden, wenn ich mitten im verregneten Oktober aufgewacht wäre", sagt Olivia grinsend, als Ominis seine Arme von hinten um ihren Körper schließt.

„Bitte sag sowas nicht. Als du nach den sechs Wochen nochmal fünf Tage und danach wieder zwei geschlafen hast, dachte ich, ich würde verrückt werden. Bis Oktober hätte ich nicht mehr warten können"

Olivia dreht sich zu ihm um und küsst ihn lächelnd. Es fühlt sich immer noch irreal an, ihn immer küssen zu können, wann sie will.

Sie löst sich von ihm und sieht ihn an.

Ominis nimmt ihr Gesicht in seine Hände und erwidert den Blick mit seinem teilweise geheilten Auge.

Lachend dreht sie sich wieder um und schmiegt sich mit dem Rücken an ihn.

„Du kannst mich nicht die ganze Zeit anstarren. Irgendwann musst du dich mal dran gewöhnen, sehen zu können", neckt sie Ominis, der ungläubig schnaubt.

„Ich glaube nicht, dass ich das jemals kann", sagt er ohne einen Funken Ironie in der Stimme.
Olivia lächelt leise.

Warum Olivias Alte Magie Ominis Blindheit geheilt hat, während es andere tötete, ist nach wie vor ein Mysterium.

Es konnte damit zusammenhängen, dass Ominis die Alte Magie bereits im Mutterleib erfuhr.

Oder es war die Verbindung zwischen der Verursacherin seiner Blindheit (Olivias Mutter) und ihr selbst.

Sie hatten ein paar halbherzige Spekulationen gewagt, doch das Thema dann schnell wieder gemieden.

Die rein theoretische Möglichkeit, dass Olivia die Macht hat, Ominis Blindheit komplett zu heilen, wiegt einfach zu schwer.


Verstohlen beschwört Olivia die Alte Magie in ihre Hände, gerade so viel, dass sie den silbernen Schimmer sehen kann.

Seit sie nun wieder jederzeit Zugang zu ihr hat, musste sie sich immer wieder vergewissern, dass sie da ist.

Sie ist – wie sie nun eindeutig weiß – ein Teil von ihr.

Ohne ihre Alte Magie würde sie wohl sterben. Deshalb war sie, als die Magie völlig ausgebrannt war, beinahe gestorben und erst wieder ganz erwacht, als sie sich wieder aufgebaut hatte. 

Olivia lässt die Alte Magie erlöschen und schließt wieder die Augen.


„Glaubst du, er kommt morgen nach Hogwarts?", durchbricht Olivia einige Minuten später die träge Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.

Ominis versteift sich.

„Nein", antwortet er schließlich bestimmt und seine Stimme klingt zehn Grad kälter als zuvor.
„Für jemanden, der mit meinem Vater an der Schwarzen und der Alten Magie forscht, wird das letzte Schuljahr wohl kaum eine Priorität sein"

Olivia spürt Trauer und Mitleid, wie jedes Mal, wenn Ominis über Sebastian spricht.

Jahrelang waren Sebastian und Anne die einzigen Menschen gewesen, bei denen Ominis sich zuhause fühlen konnte. Sie waren seine besten Freunde gewesen und nun hatte er beide verloren.

„Er tut es wegen Anne, Ominis", sagt Olivia vorsichtig, „Er interessiert sich nicht für die Schwarze Magie; er will Anne retten."

„Olivia, das kann nicht dein Ernst sein", erwidert Ominis scharf, „Darf ich dich ans fünfte Schuljahr erinnern? Er interessiert sich wohl für die Dunkle Magie, hat er immer schon. Manchmal frage ich mich, ob meine Verbindung zu ihr der einzige Grund ist, warum er mit mir befreundet war"

Olivia löst sich aus seiner Umarmung und schaut ihn entgeistert an.

„Ominis...", flüstert sie fassungslos und Ominis meidet kopfschüttelnd ihren Blick.

„Ich... ich bin einfach enttäuscht, Olivia", gibt er leise zu.
„Und ich spüre einfach, dass aus dieser Verbindung etwas Schlimmes hervorgehen wird. Mein Vater wird Sebastian zu irgendetwas Schrecklichem bringen. Vibianus wird Anne nie im Leben heilen. Zumindest nicht ohne Gegenleistung."

Olivia lehnt sich wieder an Ominis.

„Wir werden nicht zulassen, dass noch mehr Menschen leiden müssen. Das ist klar", sagt sie mit fester Stimme.

Sie unterbricht Ominis Widerspruch, bevor er mehr als eine Silbe bilden kann.

„Ich verstehe, dass du mich beschützen willst, Ominis, aber genauso will ich dich beschützen. Und alle anderen, die in Gefahr sein könnten. Ich habe jetzt am eigenen Leib gespürt, dass du mit deinen Warnungen nicht übertrieben hast, aber diese Beschützerei muss aufhören. Wir sind ein Team. Keine Geheimnisse und keine heimlichen Unternehmungen mehr. Aber wenn ich kämpfen will, kämpfe ich"

Olivias Puls beschleunigt sich. Diese Worte hatten seit längerer Zeit in ihr geschwelt und sie hoffte, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte.

Sie liebt Ominis, aber sie würde sich nicht mehr zurückhalten oder irgendetwas vor ihm verbergen. Dieser Punkt in ihrer Beziehung ist nicht verhandelbar.

Ominis bleibt einen Augenblick still. Schließlich zieht er Olivia an sich und küsst ihr auf die Wange.

„Einverstanden. Ich war eh nicht so erfolgreich darin, dich davon abzuhalten, das zu tun, was immer du dir in den Kopf gesetzt hast. Ganz abgesehen von dem schrecklichsten Liebeskummer aller Zeiten"

Sie lachen beide. Als die Sonne langsam untergeht und den letzten Abend vor dem siebten Schuljahr einläutet, legt Ominis sein Kinn auf Olivias Schulter.

„Es stimmt nicht, weißt du", flüstert er, „Dass ich es nicht mehr geschafft hätte, zu warten. Ich hätte auch noch bis Januar gewartet. Bis nächstes oder bis übernächstes Jahr. Ich würde mein ganzes Leben warten. Weil ich dich liebe. Und weil ich nie mehr weggehen werde."

ENDE

Im Schatten der BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt