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Auf dem Weg zu Isidoras Haus lief Ominis wie auch schon an dem Morgen seines Geburtstags einige Schritte hinter Olivia. 

Er schien in finsteren Gedanken versunken, die seine Wut offenbar wieder anfachten. Er sah grimmig drein und machte keinen Versuch, ein Gespräch zu beginnen. 

Schließlich erreichten sie die Ruine und Olivia war mehr und mehr genervt von Ominis beharrlichem Schweigen. Sie wusste, dass sie ihn nicht drängen durfte, doch wie sollte sie der Sache auf den Grund gehen, wenn er kein einziges Wort mit ihr sprach? 

„Pass deinen Kopf auf, hier ist ein niedriger Balken", sagte sie automatisch, als sie über die Gesteinsbrocken zum Kellereingang des heruntergekommenen Hauses kletterte. 

„Du brauchst mich nicht vorzuwarnen, ich bin gut in der Lage, mich ohne Hilfe fortzubewegen", grummelte Ominis und Olivia wandte ihm entgeistert den Kopf zu. So einen giftigen Tonfall hatte Ominis bei ihr noch nie angeschlagen. Einzig zu Professor Sharp hatte sie ihn derart unfreundlich sprechen hören. 

„Denkst du, du kannst dich zusammenreißen, solange wir zusammen sind? Ich habe dir nämlich nichts getan und echt keine Lust, dass du deine Laune an mir rauslässt", sagte sie mühsam beherrscht, wartete seine Reaktion jedoch nicht ab und stieg zielstrebig in den Keller hinab.


Olivia war schon dabei, die verstaubten Regale zu durchsuchen, als Ominis in den Keller trat. Sie ignorierte ihn, während er einige Sekunden tatenlos in dem düsteren Raum stand. Schließlich seufzte er leise und untersuchte einige Papiere am anderen Ende des Kellers. 

Olivia registrierte wütend, dass ihr Herzschlag sich beschleunigte. Warum spürte sie diese Anziehung, obwohl sie sich doch gerade wirklich über Ominis ärgerte. Es machte sie wahnsinnig, dass er nicht mit ihr redete; dass er jede Berührung scheute; dass er ihr nicht sagte, was verdammt nochmal Sache war!

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und zog an einer feingliedrigen Kette, die unter einer großen Kiste auf dem obersten Regalbrett hervorlugte. 

Sie fühlte sich speckig und rostig an und Olivia überlegte, ob es sich um eine Halskette handelte. Olivia zog fester. Zweifellos hing etwas an der Kette, sonst würde sie sich viel einfacher herausziehen lassen. Sie reckte sich noch höher und zerrte nun mit beiden Händen daran. Einen Moment später bewegte sich das Kettchen und Olivia stolperte fast nach hinten, als ein großes Medaillon zwischen Kiste und Regalboden hervorglitt. 

Olivia hatte keine Zeit, das Amulett zu betrachten, denn sie bemerkte sofort ihren Fehler. 

Die Kiste, unter der sie das Schmuckstück hervorgezogen hatte, kippte langsam nach vorne. Im nächsten Moment würde sie auf Olivia fallen und sie unter sich begraben. Sie konnte nichts tun, als sich gegen den Schmerz zu wappnen und den Kopf einzuziehen.

Doch der Aufprall blieb aus. 

Stattdessen wurde sie unsanft von einem großen Körper nach vorne an das Regal geschoben.

Links und rechts von ihrem Kopf reckten sich Arme nach oben, die sich gegen die Kiste stemmten. Olivia keuchte überrascht und steckte das Medaillon geistesabwesend in ihre Umhangtasche, bevor sie sich umdrehte.

Ominis stand nur Zentimeter vor ihr. 

Er schob die Holzkiste zurück und musste sich so hoch recken, dass Olivia sich mit dem Rücken fester in das Regal drückte, um ihm Platz zu machen. 

Obwohl Ominis die Gefahr beseitigt hatte, verharrten seine Arme über Olivias Kopf. Ihr Herz pochte heftig und sie starrte ihn an. Er atmete ebenfalls schwer und die Besorgnis war noch nicht ganz aus seinem Gesicht gewichen. 

Im Schatten der BlutlinieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt