Kapitel 1

361 18 64
                                    

Die Wälder Csejtes des Königlichen Ungarns, November 1609

𝕰s war eine eisige Nacht. Die Tränen des Himmels erstarrten durch den Kuss des Windes in den Armen der Blätterkleider stiller Bäume, die mit ihren kräftigen Ästen die Erde vor einem todbringenden Gewitter schützten. Inmitten einer glitzernden Lichtung, die mit Perlen aus Regentropfen und Eis verziert war, lag der blasse Leib eines jungen Mädchens. Zwischen ihren Beinen wölbte sich ein scharfer Eiszapfen hervor, der sich mit jenen funkelnden Juwelen ergänzte, die ihre Schamhaare schmückten.

~

Wann hatte ich mich in vergangener Zeit so leicht gefühlt? Einen Moment zuvor schrie mein Körper vor Schmerz, als er von einer unerträglichen Kälte aufgefressen wurde, doch jene verlorene Wärme kehrte durch ein helles Licht zu mir zurück, das sich mir just in diesem Moment der Stille offenbarte. Ich erwachte aus meinem Traum und erinnerte mich an jene Quelle, die meine Seele mit Leben stillte. Ich erinnerte mich an meinen Abschied und meine Heimkehr zu Gott – dem alles, was ist und immer sein sollte. Worte waren nicht nötig, um die Stimme des Lichts zu hören, das mich in seiner Glorie empfing.

Zwischen Geburt und Tod sah ich den Pfad meiner Seele, die sich im Leib meiner Mutter wiederfand und ein Leben in diesem Land begann, das wir Magyar Királyság nannten. Jenes Wesen, das mir das Leben als Mensch schenkte, taufte mich auf den Namen Evièka – das Leben; das Leben, das sie sich nach fünf Totgeburten sehnlichst gewünscht hatte. Doch nun war auch ich, die sich nur neunzehn Jahre in diesem Körper erfahren durfte, in die Arme des Ablebens gedrängt worden. Aus sexuellem Trieb und Gelüst ordnete eine andere Seele die Tötung meines Leibes an, um sich an meiner vereisten Gestalt zu ergötzen. Es tat mir im Herzen weh zu sehen, welch' hässliche Erfahrung sie von sich selbst machte.

»Isten«, sprach ich im Gedanken zur Heimat, die mich einlassen wollte, »ich möchte dieses Leben noch nicht aufgeben.« Denn ich hatte verstanden, welcher Aufgabe ich nachkommen musste: Die Rettung einer Seele vor der Dunkelheit, die sich tief in ihren Adern ausgebreitet und ihr Sein vergiftet hatte. Mein Wunsch war es, diese Seele wieder an die Liebe zu erinnern, die sie einst war.

»Mein Kind, genau wie meine anderen Geschöpfe befindest du dich in Partnerschaft mit mir. Wir haben einen ewigen Bund geschlossen. Es gibt nichts, was du nicht sein kannst, nichts, was du nicht tun kannst und nichts, was du nicht haben kannst. Wenn dies dein Wunsch ist, so soll ich dich nicht daran behindern ihm nachzugehen. Ich gab euch einen freien Willen und werde ihn euch niemals nehmen.«

Ich lächelte dem Licht zu, das mich ein letztes Mal in seine Wärme hüllte und während ich mich zurück in die Dunkelheit begab, wählte ich, zurück in diesen erstarrten Körper zu kehren und ihn mit dem Hauch von Leben, das noch in ihm steckte, wiederzuerwecken.

~

»Du meine Güte! Gellért, schau! Dort liegt eine Tote!«, tönte die Stimme einer Frau aus naher Gegend. Wenngleich ich mein Bewusstsein wiedererlangt hatte, fehlte mir noch immer die Kraft, meine schweren Augenlider zu bewegen. Nicht einmal einen Finger vermochte ich zu rühren, so taub und starr fühlten sich meine Glieder an. Ich fühlte den weichen Schnee unter meinen Fingernägeln und hörte sein Knirschen, das fremde Füße erzeugten, die sich mir näherten.

»Ich betete zum Herrn, dass wir niemals solch einen Fund machen würden, doch nun sind auch wir mit dem Tod konfrontiert worden, der diese Burg seit Jahren mit seinem geheimnisvollen Schleier umhüllt«, erwiderte die starke, kräftige Stimme eines Mannes. Das Knirschen verstummte und ich fühlte, wie die Wärme eines anderen mit der Kälte meiner Hand verschmolz. Dieser kleine Hauch von Leben gab mir die Kraft, meine Augen zu öffnen und das Gesicht jener Person zu erblicken, die meinen Körper von ihrer Wärme kosten ließ. Ich blickte in das Gesicht einer Frau mittleren Alters, deren braune Augen feine Falten zierten, die Sympathie und Güte ausstrahlten. Schwarze Haare, durchzogen mit grauen Strähnen, die im Mondlicht sichtbar wurden, lugten aus ihrem braunen Baumwollumhang hervor.

AngstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt