Der Jäger

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Behutsam und respektvoll breitete ich das Leichentuch über den Verstorbenen aus, dabei flüsterte ich leise ein Gebet. Der kurze Moment der Totenehre wurde abrupt beendet als die stämmige Frau, die mich vorhin angetrieben hatte, einigen Betten weiter herrisch brüllte: "Mädchen, komm her! Um die Toten kümmern wir uns später. Jetzt benötigen die Lebenden unsere vollste Aufmerksamkeit."

Ich folgte sofort ihrer Aufforderung und wurde dazu angehalten, die Beine des Jungen festzuhalten, damit der Heiler den Pfeil entfernen konnte, der ihm im Oberschenkel steckte. Der Junge versuchte krampfhaft still zu liegen, allerdings bäumte sich sein Körper immer wieder unkontrolliert auf. Es brauchte mehrere Bedienstete, die ihn bändigen, denn es steckte eine unerwartete Kraft in ihm. 

Eine Kraft, die ich ebenfalls zu spüren bekam, als er mir einen Tritt in die Magengrube versetzte, sodass mir die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Ich krümmte mich röchelnd zusammen und blinzelte die Tränen weg.

Verfluchte Scheiße!

"Stell dich nicht so an, Mädchen! Los, halt ihn fest", herrschte mich Jera an, dies war der Name der Hauswirtschafterin, die das Sagen über die Dienerschaft hatte. Ich atmete zittrig ein, biss die Zähne zusammen und packte erneut die Knöchel des Verletzten, dabei positionierte ich mich anders an zuvor - ich werde mich nicht nochmal einen Tritt einfangen. 

Der Medicus umfasste den Pfeil am Schaft, setzte sein Knie oberhalb der Wunde auf das Bein, um Gegengewicht zu erzeugen und zerrte mit einem heftigen Ruck die Waffe heraus. Der Verwundete schrie in einer Mischung aus Knurren und Brüllen auf, bäumte sich auf und schlug um sich. Wie im Wahn schmiss er den Kopf herum, versuchte jemanden mit den Zähnen zu erwischen und stierte uns aus goldgelb glühenden Augen an. Mit dem Schaum, der sich um seine Mundwinkel sammelte, wirkte er wie ein tollwütiges Tier.

Ich hatte noch nie jemanden so gesehen - was das normal?

Außerdem kam der Pfeil mir seltsam bekannt vor. Das dunkle Holz eines Kirschblütenbaumes und das fahle Schimmern des Silberstaubes - das würde ich überall wiedererkennen. Diese Pfeile hatte ich ebenfalls zum Jagen benutzt. Mein Vater hatte mir gezeigt, wie man sie herstellt.

Woher stammen diese Pfeile?

Ich schnaubte über meine dämliche Frage - natürlich gibt es noch mehr Menschen, die die Herstellung solcher Pfeile beherrschen. Während ich meine grübelnden Gedanken verscheuchte, säuberte der Heiler die Wunde und legte einen Verband an. Mir fiel allerdings auf, dass die Wundränder seltsam verbrannt wirkten.

Vielleicht waren die Pfeile doch anders als meine...

Meine verursachten immerhin keine Verbrennungen. Der Junge lag völlig erschöpft und zusammengesunken da. Die wildgewordene Bestie, die er vor wenigen Minuten noch war, war verschwunden und zurück blieb ein verschwitzter, wimmernder Jugendlicher. Die anderen Bediensteten waren bereits bei den nächsten Patienten, ich jedoch wischte dem Verarzteten sanft das Gesicht mit einem kalten Lappen ab.

"Der Pfeil ist entfernt, also wird der Junge wieder gesund, oder?", fragte ich vorsichtig beim Heiler nach, der in seiner dunkelbraunen Kutte und den weiß melierten Haaren noch über einfachen Verband gebeugt stand.

"Das kann ich noch nicht sagen. Wenn die Infektion noch nicht zu weit ausgebreitet ist, könnte er überleben", gab er zu bedenken, rieb sich nachdenklich das Kinn und betrachtete die dunklen Adern, die sich ausgehend von der Wunde ausgebreitet hatten. "Wir werden ihn beobachten und dann weiterschauen", damit folgte er bereits dem nächsten Ruf eines Verletzten.

Infektion?

Besorgt blickte ich in das junge Gesicht, das leicht gerötet war und glühte. Ich sandte ein Stoßgebet an die Götter, dass sie diese junge Seele retten mögen. Ich hatte nur wenig Kenntnisse über Infektionen, jedoch erschien mir die Verfärbung seiner Adern eigenartig.

A court of stars and moonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt