3. Noah

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Es war ein unkontrollierbarer Impuls. Ich sah ihn und ich wollte sofort über ihn schreiben. Das hatte nicht den Grund, weil er er ist- ein weinroter oversize Pulli, braune Locken, strahlendes Lächeln, Grübchen... nein, nein das war nicht wichtig. Ich kenne ihn nicht und meine Motivation neue Menschen kennenzulernen und sie danach wieder vergessen zu müssen, ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, wirklich.

Es war nur.. meine Gedanken stockten. Es passierte oft, also suchte ich schnell mein Zimmer auf, schmiss meine Sachen auf den Boden und auf das Nächstliegende Bett, lehnte mich mit meinem Rücken an das Kopfkissen und schlug mein Notizbuch auf. Mit der roten Tinte fing ich an zu schreiben:

Als ich mich in der Runde von all den Schüler:innen umsah, stach er heraus. Alle sahen zu der Schiller oder gelangweilt auf den Boden. Er, er blickte in den Himmel und mit dieser einfachen Geste schien er etwas zu fühlen, was andere nicht fühlen können. Ein völlig für ihn geschaffener Moment. Er stand nur knapp zehn Meter von mir gegenüber, aber trotzdem hatte ich das Gefühl, alles spüren zu können: die Hebung seiner Brust, seine Atemzüge...

Die Tür ging auf und ich legte mein Notizbuch schnell beiseite. Er stand vor mir.

„Colin. Also mein Name. Mein Name ist Colin", sagte er lächelnd und ging dann langsam zu einem der Betten. Er drehte sich wieder um und ein freundliches Gesicht strahlte mich erwartungsvoll an.

Ich holte gerade Luft, um ihm ebenfalls meinen Namen zu sagen, doch da öffnete sich die Tür erneut und ein braunhaariger Junge stolperte ins Zimmer.

„Hi zusammen, ich bin Joel. Ach wie schön ist das denn, ein Zimmer zu dritt. Dann wird hier also immer was los sein, das ist gut. So bekommen wir viel Abwechslung am Tag, niemand wird alleine sein und wir können uns immer gegenseitig unterstützen. Das volle WG- Programm. Ich bin mir sicher, dass wir ein gutes Team werden."

Stille.

Wow. Wie kann ein Mensch denn bitte sofort so viel und so schnell reden?

„... und wer seid ihr?" fragte Joel nach einigen Sekunden.

„Colin", gab der Junge mit den Locken wieder freundlich von sich.

„Noah", antwortete ich knapp, drehte mich um und sah dann nochmal in Colins Augen: „Ich bin Noah." Ein kleines Lächeln schlich mir dabei über die Lippen.

„Freut mich sehr", kam von Joel. Kann er nicht bitte ein paar Sekunden leise sein?

Überraschung: nein, konnte er nicht. In den nächsten zehn Minuten hielt er einen Monolog über seinen Kursplan und das Zukunftsmodul, wie toll es hier doch sei und wie sehr er sich auf die Zeit hier freute. Dabei packten wir unsere Sachen aus den Koffern aus und in die Schränke ein. Colin schien sein Vortrag jetzt auch nicht äußerst interessant zu finden, aber ab und an gab er ein kleines „ah" oder Schmunzeln von sich. Ich gab mir keine Mühe, Interesse zu zeigen. 

„Welches Modul ist euer Fokus?" fragte Joel

„Ich bin im Literaturmodul." Ich blickte zu Colin rüber. Sympathisch.

„Literaturmodul also. Beide?" sah Joel mich an. Ich nickte nur.

„Also, ich will eure Wahl gar nicht in Frage stellen, aber nun ja, Texte und Gedichte lesen, schreiben, analysieren... ist das nicht ein wenig... altmodisch? Vor allem, wenn künstliche Intelligenzen das bald alles alleine machen können?"

Ich lachte leicht auf und widmete mich gelangweilt wieder meinen Sachen zu, die langsam alle einen Platz in den Regalen fanden, mehr oder weniger, Ordnung ist nicht so meins. Eigentlich hatte ich echt keine Lust, solche Gespräche führen zu müssen, aber ich konnte mich nicht zurückhalten:

„Du kannst im Zukunftsmodul sicherlich ein paar neue Roboter erfinden, die uns altmodischen Menschen austauschen werden, okay? Vielleicht welche, die weniger reden."

Joel sah verdutzt zu mir. „Ja, also...nein. So meinte ich das doch gar nicht. Ich will eure Entscheidung doch nur verstehen, vor allem wenn es noch andere super Module zur Auswahl gibt", stammelte er vor sich hin.

Ich atmete laut und angestrengt aus. Plötzlich fielen mir ein paar Worte ein, ein Zitat, welches die Bedeutung für Literatur für mich so wundervoll zusammenfasste:

„We read and write poetry because we are members of the human race and the human race is filled with passion!

Das ist der Grund, Joel, das ist der Grund für unsere Entscheidung."

Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer.

Eleganter Abgang.


Das Zitat ist aus dem Buch „Dead Poets Society" (große Empfehlung!!)

Xx Mel 

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt