8. Colin

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... Noah sah auf seinen Zettel und stand auf. Dann atmete er tief ein und sprach. Er sprach und er sprach und er sprach mit einer Eleganz, hob seine Stimme an und wurde schneller, senkte sie und wurde wieder langsamer.


„...Denn ich bin der vereidigte Dichter jedes furchtlosen Liebhabers von Männern ,

Dies ist das Lied der Bäder

Dies ist das Lied des großen Jahazi, des unschätzbaren Dampfers auf dem Euphrat,

Dies ist das Lied des Liebhabers von Männern..."


Ich war beeindruckt von seinem Mut und von seiner Ehrlichkeit, kein Gefühl zu verstecken. Ich meine, wenn ich alleine bin, fällt es mir auch leicht, mich völlig einem Text hinzugeben. Aber vor dem gesamten Kurs? Es steht ein wenig im Kontrast mit seinem eigentlich etwas mysteriösen Verhalten, aber es gefiel mir. Sehr sogar.

Nach dem er das letze Wort gesprochen hat, setzte er sich. Meinen Blick wendete ich keine Sekunde von ihm ab.

„Das war sehr schön, Noah, sehr mutig von dir. Es scheint mir so, dass du das nicht zum ersten Mal gemacht hast. Man hört und sieht deine Leidenschaft, du liest und fühlst. Und das lässt du uns spüren. Großartig."

Frau Stocker hatte Recht. Es war umwerfend.


Die Schulklingel läutete. Pause.

Ich wollte gerade zu Noah rüber gehen, doch er verschwand schneller aus der Tür, als ich gucken konnte. Ich sah mich im im Gang nach ihm um. Wo war er? Nach draußen war er bestimmt nicht gegangen, da es regnete. Mir schien es so, als würde er sich verstecken wollen. Wohin geht man, wenn man alleine gelassen werden wollte? Auf die Toiletten.

Tatsächlich. Er saß an der Wand neben dem Waschbecken.

Noah sah mich an und plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee gewesen ist, ihn zu suchen. Ich wollte ihm nicht wieder zu nahe treten, da ich aber auch nicht einfach gehen oder hier vor ihm von oben herab stehen wollte, setze ich mich neben ihn.

Ich starrte an die Wand gegenüber von uns und Noah tat es mir gleich. „Ich fand das gerade voll schön, wie du vorgelesen hast", sagte ich ihm.

Er schien überrascht zu sein. „Ja? War es nicht... komisch?"

„Nein. Nein, das war nicht komisch. Du hast das Gedicht mit deinem gesamten Körper erlebt. So sollte es sein."

Ich erinnerte mich an die letzten Zeilen des Gedichts und zitierte sie nochmal:


„Denn ich bin der vereidigte Dichter jedes furchtlosen Liebhabers von Männern ,

Dies ist das Lied der Bäder

Dies ist das Lied des großen Jahazi, des unschätzbaren Dampfers auf dem Euphrat,

Dies ist das Lied des Liebhabers von Männern"


Jetzt drehte sich Noah zu mir um. „Du kennst das Gedicht?"

„Ja, es ist... ich weiß nicht, es ermutigt, über Emotionen, Erfahrungen und Bindungen zu schreiben, die von vielen Menschen ignoriert werden. In diesem Gedicht ist es die gleichgeschlechtliche Liebe. Und naja, darum geht es doch in Gedichten oder? Über das Unausgesprochene zu schreiben".

Noah gab ein kleines Lächeln von sich. Es schien so ehrlich zu sein. „Danke."

Ich erwiderte sein Lächeln, wendete meinen Blick aber nicht von ihm ab. Sekunden sahen wir uns an und mich überkam plötzlich ein Hitzschlag. Sein Blick flackerte und auch in mir verschwomm die Klarheit.

*Dong*

Die Schulklingel.

Er stand auf. „Komm, wir haben Mathe".


PS: auch wenn man genauer hinsehen muss, gibt es tatsächlich viele ältere Liebesgedichte, die von gleichgeschlechtlicher Liebe handeln. Einige von Walt Whitman gehören vielleicht auch dazu...

Xx Mel 

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt