11. Noah

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Ich war erleichtert, dass Colin und ich ausgesprochen hatten, was zwischen uns stand. Es war ja kein Streit, aber die kleinen Geheimnisse hinderten uns daran, uns besser kennenzulernen. Und das war alles, was ich wollte. Ich wollte ihn kennenlernen. 

„Ich würde gerne mehr Zeit mit dir verbringen. Das wollte ich von Anfang an." Dieser Satz hallte und hallte in meinem Hinterkopf wie ein endloses Echo.

Auf dem Weg zum Dachboden wurde ich plötzlich sehr nervös darüber, was er von dem Ort halten würde, den ich im Verlauf der vergangenen Woche... etwas zu einer Art „zweites Zimmer" umgestalten hatte. Meine Mitbewohner? Spinnen und Staub. Es könnte also deutlich einladender sein, aber für mich war es genug. Fast.

Wir standen vor der Tür.

„Ich bin noch nie dort gewesen", flüsterte Colin und schmunzelte dann. „Das kann doch nicht sein, da ich bin ich länger auf dem Einstein als du und du kennst den Dachboden vor mir."

„Hoffentlich gefällt es dir. Es ist ein bisschen ungemütlich und verstaubt, aber ich habe die letzten Tage ein paar Sachen mit hochgebracht."

Wieder lachte er leise. „Wolltest du etwa aus unserem Zimmer ausziehen?"

„Ja, aber nur um Joelˋs Monologe über Zukunft und Marketing zu entkommen."

„Ach ja, Joel."

„Hmmm", bestätigte ich. „Und jetzt, darf ich bitten? Willkommen bei ,mir' zu Hause..." Theatralisch öffnete ich die alte Tür, so wie er es letzte Woche mit der der Schulbibliothek gemacht hatte. Er schien die Parallele zu bemerken und grinste. Dann trat er über die Schwelle, drehte sich langsam im Kreis und betrachtete den Raum. Doch als er den Bücherstapel sah, steuerte er ohne etwas zu sagen sofort darauf zu. Er ist wie ich.

„War mir klar, dass du ein paar Bücher mitgebracht hast."

Während er durch den Stapel stöberte, suchte ich zwei größere Kissen, die ich anschließend auf den Boden legte, damit wir uns setzten könnten. Aber Colin schien sich nicht von den Büchern wegbewegen zu wollen, also ging ich zu ihm.

„Ich dachte, wir sind hier, um Hausaufgaben zu machen und nicht, um uns durch meine private Bibliothek durchzulesen", sagte ich ironisch und stupste ihn von der Seite an.

„Und ich dachte, wir sind hier, um mehr Zeit miteinander zu verbringen und uns besser kennenzulernen".

Oh Gott, ich liebte es, wie wir reden.

„Dann unterhalt dich mit mir und lies nicht meine Bücher."

„Ich glaube, dass man sehr viel über einen Menschen erfahren kann, wenn man weiß, was er liest." Er legte ein Buch aus der Hand und schaute auf.

Colin. Colin Colin Colin. Der Name passt zu ihm.

Da wir uns etwas zu lange ansahen, räusperte ich mich. „Du meintest vorhin im Zimmer, dass du viele Mathe, Physik und Chemie Wettbewerbe gewonnen hattest. Warum dann das Literatur Modul? Warum nicht mehr naturwissenschaftliche Fächer, in denen du so oder so gut bist?"

Er wendete den Blick ab. „Naturwissenschaften sind einfach. Es gibt Regeln, Gesetze, Zahlen und Fakten. Wenn man sich daran hält, dann kann nichts schief gehen. Ich liebte diese Sicherheit und das Wissen, am Ende auf ein Ergebnis zu kommen. Aber ich liebe auch das Schreiben, nur ist es komplizierter und ich habe mich lange nicht getraut, mich dem zu widmen."

„Du kannst nicht immer alles verstehen. Das musst du auch gar nicht", sagte ich ihm eindringlich.

„Ich weiß. Und das fällt mir schwer."

Ich nickte schweigsam. Colin schrieb, um seine Angst vor Unsicherheit zu überwinden und fand darin die Sicherheit. Das gefiel mir. Es war sogar wunderschön.

„Was ist mit dir? Warum ist dir das Schreiben so wichtig?"

Diese Frage konnte ich leicht beantworten. „Weil es das einzige ist, das bleibt. Weil es das einzige ist, das mir gehört."

„Dein Notizbuch?", fragte Colin. „Du hast es immer bei dir."

„Ja, zum Beispiel. Es ist immer da und gefüllt mit Worten, die meine sind."

Er schien es zu verstehen. „Hast du denn das Gefühl, dass nicht viel in deinem Leben nur dir gehört?"

Ich seufzte. Ich konnte noch nicht ganz darüber sprechen, aber eine kleine Metapher vielleicht ja schon... „Mein Leben ist ein bisschen... schnelllebig, ich bin lange nicht mehr wirklich angekommen." Ich wollte über etwas anderes sprechen und wie gerufen kam mir ein Gedanke von vorhin auf: „Ich musste nochmal daran denken, was du gesagt hattest, also dass du momentan so viel arbeitest. Ich... ich könnte dir helfen? Ich kann mitkommen und dich unterstützen. Wir könnten das zusammen machen."

Das ausgesprochen zu haben, fühlte sich größer an, als es mir in meinem Kopf vorkam. Und auch wenn gerade viel in mir tobte, bereute ich es nicht. Ich wollte ihm wirklich helfen.

Colin schien zu zögern und sah plötzlich so unsicher aus, wie es in mir aussah. „Noah... du musst das nicht machen."

„Aber ich will. Und hey, gibt es bessere Orte als Bibliotheken? Es wäre wirklich keine Strafe für mich, mitzukommen."

Er sah mich dankbar an: „Okay."

Blickkontakt. 

Ich wusste wieder nicht, wie ich wegsehen sollte. Normalerweise passiert doch was, wenn man sich solange anschaut. Die Konversation geht weiter, Bewegung kommt rein oder jemand sieht weg. Bei uns passierte nichts von beidem, außer ich bemühte mich aktiv darum. „Möchtest du was trinken? Tee?"

Colin lachte. „Du hast wirklich an alles gedacht oder? Befindet sich hier zufälligerweise noch ein Badezimmer und eine Einbauküche?

„Ich arbeite dran",  sagte ich und hielt ihm eine Tüte Kekse entgegen.

Ich hatte hier oben das Gefühl, mehr sein zu können. Ein offener, ehrlicherer Mensch und deshalb fragte ich ihn viel, ohne Scheu, auch etwas von mir zu erzählen. In den letzten Stunden habe ich so viel von Colin erfahren und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es noch so viel unentdecktes in ihm gibt. Und ich wollte alles von ihm entdecken.

Am Abend schrieb ich Seiten über Seiten in mein Notizbuch.

colin colin colin 

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt