10. Colin

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Die erste Schulwoche verging wie in Lichtgeschwindigkeit, der Alltag pendelte sich ein und alle fanden ihren Rhythmus. Meiner sah so aus: aufwachen, Frühstück, Schule, Arbeit, Hausaufgaben, 5 Minuten soziales Leben auf mich nehmen, Abendessen, schlafen. Und dann wieder alles auf Anfang. Und dann wieder und wieder und wieder... Auch wenn ich durch den Tag kam, war ich mir bewusst, dass das über lange Zeit hinweg nicht gesund war, aber es wird nicht mehr lange so bleiben. Bald werde ich wieder weniger Stunden in der Bibliothek arbeiten und mehr Zeit haben, um das Leben eines normalen Jugendlichen zu leben, doch erstmal musste ich weiter arbeiten. In drei Monaten stehen die Klassenfahrten der Module an und ich hatte noch immer nicht vollständig bezahlt.

Nur meine Eltern und Julia wussten von dem Job. Ich schämte mich nicht dafür, wenig Geld zu haben, aber jemanden von meiner Arbeit zu erzählen, könnte mir Probleme mit der Schulleitung bringen. Außerdem würde es weitere Fragen aufwerfen und diesen wollte ich mich nicht jedes Mal aufs neue stellen müssen.

Noah kam die ersten Tage nach Schulende immer auf mich zu, um mit mir zusammen ins Internat zurück zu gehen, aber ich ließ ihn stehen, wimmelte ihn ab oder ging ihm aus dem Weg, da ich ich zur Arbeit musste. Und abends war er derjenige, der nicht da war. Er kam erst sehr spät in unser Zimmer zurück oder verschwand nach dem abendlichen Rundgang von Frau Schiller. Auch mit Julia, Ava und Joel verbrachte ich nur während des Essens Zeit.

Ich wollte das nicht, wirklich. Ich mochte sie alle sehr, wir waren eine coole Gruppe, Julia war meine beste Freundin, Ava und Joel waren super lustig und Noah... er wusste nicht, wo ich immer war und genauso wenig wusste ich das von ihm. Punkt, mehr ist da nicht.

Ich atmete tief durch und konzentrierte mich dann wieder auf den Text, der auf meinem Schoß lag. Hausaufgaben, also Fokus jetzt.

Oder auch nicht. Die Zimmertür öffnete sich. „Oh, auch mal da?" Es war Noah.

„Noah, hey..."

Er bewegt sich mit schnellen Schritten auf mein Bett zu und machte dann davor halt. „Okay hör zu, ich weiß nicht, wie oft ich dich das in den letzten Tagen gefragt habe, aber hier nochmal: ist alles okay bei dir? Du bist nie da, du gehst mir nach der Schule aus dem Weg, du siehst müde aus-"

Das stimmte. Noah hatte oft nachgefragt, wie es mir geht, aber ich behandelte diese Frage immer nur wie einen kleinen Small Talk Versuch. Dabei hasste ich Small Talk, aber ich war einfach so überfordert. Mit allem.

Wie auch jetzt.

Stress, Müdigkeit, Schuldgefühle... es kommt immer alles auf einmal.

„Und du bist abends nie da", war alles, was ich herausbrachte. Versuchte ich abzulenken oder herauszufinden, wo er immer war? Beides.

Noah seufzte und wir sahen uns an. Die Schuldgefühle füllten jetzt den meisten Raum in mir. Und nicht nur das- ich war wirklich nicht ganz fair zu ihm und ich hatte keinen Grund, eine Konfrontation zu starten.

Meine Schulten sackten in sich zusammen. „Entschuldigung. Ich wollte das nicht. Ich wollte nicht so sein."

Stille. Er schwieg. Dann überbrückte er plötzlich den letzten Abstand zwischen uns und setzte sich neben mich auf mein Bett.

„Dachboden." Das war alles, was er sagte. Bitte was?

Fragend sah ich ihn an, bis er schließlich hinzufügte: „Wenn ich nicht hier bin, dann bin ich dort. Ich häng da ein bisschen rum, nichts besonderes. So und jetzt bist du dran."

Ich wusste, was er damit meinte. Also legte ich los- nicht weil ich musste, sondern weil ich wirklich wollte: „Meine Eltern haben keinen besonders...", ich atmete nochmal durch, „sie verdienen nicht sehr viel, zumindest nicht so viel, um mir das Leben hier auf Einstein zu bezahlen. Sie sind tolle Eltern und sie unterstützen mich wo sie können, das tuen sie wirklich, aber das Geld ist schon immer sehr knapp gewesen. In den letzten Jahren hatte ich ein paar Mathe, Physik und Chemie Wettbewerbe gewonnen und dadurch ein Stipendium für das Einstein bekommen. Ich hatte Glück. Ich darf hier wohnen, hier zur Schule gehen, Julia konnte auch mitkommen... aber das Stipendium deckt nicht alle Kosten. Und deshalb arbeite ich in der Stadt- und Regionalbibliothek hier in Erfurt. Es ist nur ein kleiner Nebenjob, aber damit kam ich bis jetzt immer gut durch den Monat. Momentan muss ich nur ein bisschen mehr arbeiten, um die Rechnung für unsere kommende Klassenfahrt zu bezahlen. Das war alles."

Das war nicht nur alles, es war auch viel auf einmal, aber es war richtig, es ihm zu erzählen. Was redete ich denn da? Es war nicht richtig, es fühlte sich gut an.

Ich wusste nicht, was als Nächstes kommen würde. Da saß ein Junge neben mir, den ich wirklich gerne mochte, obwohl ich noch nicht viel über ihn erfahren hatte.

Wir saßen nebeneinander, sahen uns an und es war genau wie letzte Woche auf den Schultoiletten. Dann legte er eine Hand auf meine Schulter. Diese kleine Berührung brachte mich dazu, noch einen kleinen Impuls aus mir heraus zu holen: „Ich würde gerne mehr Zeit mit dir verbringen. Das wollte ich von Anfang an."

„Wir können ja gleich damit anfangen. Ich sehe, du machst gerade Hausaufgaben und naja, ich habe sie noch nicht gemacht. Also wenn du möchtest..." Sein Lächeln wurde größer und ich, ich war plötzlich so erleichtert.

„Ja. Ja auf jeden Fall", antwortete ich schnell. Auf jeden Fall. Dann dachte ich an das, wovon er vorhin erzählt hatte. „Aber nicht hier. Nimm mich mit zu deinem Platz."

Seine Hand strich langsam von meiner Schulter und er stand. Er suchte ein paar Sachen zusammen, schmiss sie in sein Rucksack und sah mich an: „Komm mit."

Es fühlte sich an wie der Beginn eines großen Abenteuers. 


PS: wenn ihr Bücher habt, die ihr in dieser Geschichte gerne wiederfinden wollt, schreibt sie mir gerne in die Kommentare <3

Xx Mel 

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt