14. Colin

572 22 2
                                    

Noah las vor. Er las und las und las und ich wollte jedes Wort, jede einzelne Silbe, die aus seinem Mund kam, in mir aufnehmen. Verträumt stützte ich mich mit dem Kinn an meinen Händen ab und sah ihn an. Ab und zu schloss ich meine Augen, wippte leicht hin und her und genoss seine Stimme wie eine zuvor noch nie gehörte Melodie.

Die Zeit verging mit einem Wimpernschlag. Irgendwann senkte Noah seinen Ton zu einem Flüstern und sprach das letzte Gedicht zu Ende. Dann war nur noch die Sille da. Die Stille und unser Atem.

„Noah", sagte ich und öffnete meine Augen, „Das war wunderschön. Es bräuchte tausende Gedichte, um deine Stimme zu beschreiben."

Er sah mich mit einem undefinierbaren Blick an. Ich würde so gerne wissen, was er in solchen Momenten dachte, aber seine Blicke genügten mir auch, um mich in diesen Sekunden voll einzunehmen. Und ich verstand das alles nicht. Es passierte etwas und ich wusste auch in welche Richtung, aber ich begriff es nicht.

Noah lachte auf, versteckte sein Gesicht hinter seinen Händen und schmiss sich weiter in das Kissen hinein. Aber er sagte nichts. Also setzte ich mich auf, um mich dann wie gestern Abend neben ihn zu legen. Ich wollte noch mehr hören- von seiner Stimme und von ihm.

„Wo warst du überall?"

Fragend sah er mich an. Sein Gesicht war so nah an meinem, also flüsterte ich.

„Du meintest mal, dass dein Leben sehr schnelllebig ist und du lange nicht mehr angekommen bist. Ich dachte mir deshalb, dass du viel unterwegs warst."

Er drehte seinen Kopf wieder zurück und blickte zur Decke hinauf, sodass ich jetzt auf sein Seitenprofil sah. Mit meinen Augen fuhr ich die Linie von seiner Stirn bis zum Kinn entlang. Noah schloss die Augen und atmete nochmal laut ein und aus.

„Überall. Es gibt fast kein Land, in dem ich noch nicht war. Meine Eltern reisen beruflich sehr viel und ich bin immer mitgekommen. Die meiste Zeit über hatte ich eine Privatlehrkraft, sind wir aber ein paar Monate an einem Ort geblieben, bin ich auf eine normale Schule gegangen. Das war aber nur sehr selten."

Zum ersten mal sprach er darüber, woher er kam.

„Das ist... wow. Reisen ist etwas wundervolles, es muss bestimmt aufregend sein, dass du so viel von der Welt gesehen und kennengelernt hast."

„Kennengelernt?" Noah gab ein kurzes, bitteres Lachen von sich. „Die meiste Zeit über war ich im Haus. Ich hatte nie wirklich die Chance, die Stadt und ihre Menschen intensiv kennenzulernen. Es war, als würde ich um die halbe Welt fliegen, ohne aber auch nur einmal auszusteigen. Manchmal hatte ich nicht mal meine Koffer ausgepackt."

„Hast du das nie so deinen Eltern gesagt? Vielleicht hättet ihr irgendwo bleiben können."

„Nein. Nein, das ginge nicht. Ich mag meine Eltern, sie sind klasse, auch wenn sie sehr auf ihren Beruf fokussiert sind. Sie ermöglichen mir ein tolles Leben und ich wollte nicht undankbar sein. Deshalb bin ich immer mitgekommen und nie geblieben. Und naja, jetzt bin ich ja hier."

„Bleibst du?" Die Vorstellung, er würde nur ein paar Monate hier bleiben, tat weh. „Bleibst du hier, also hier auf Einstein, hier im Internat?" Hier bei mir.

„Ich denke schon, ja. Aber ich habe Angst, dass ich das nicht kann."

Seine Stimme wurde dünner und brüchiger, er weinte nicht, aber ich bemerkte, dass es nicht leicht für ihn war. Ich drehte mich auf die Seite und er tat es mir gleich. Dann flüsterte er: „Ich wünsche mir so sehr, ein festes zu Hause zu finden. Ich will eine Stadt so gut wie mein Lieblingsbuch kennen, mir vertraute Gesichter auf der Straße sehen, jeden Morgen die selben Kirchenglocken hören, mein Lieblings Café finden und einfach ankommen."

Ich grinste. „Alles was du sagst, ist wie Poesie." Dann wurde ich wieder ernster. „Wir können hier bleiben. Solange, bist du die Stadt so gut wie dein Lieblingsbuch kennst, du vertraute Gesichter auf den Straßen siehst, sich der Klang der Kirchenglocken in dein Herz gebrannt hat, du dein Lieblings Café entdeckt hast und angekommen bist."

„Das hast du wundervoll gesagt."

Ich lachte verlegen und hob meine Augenbrauen. „Ich weiß. Von wem ich das wohl habe..."

Da war es wieder. Das endlos lange Ansehen, ohne dass ich weg wollte. Es war so schön, so rein, so klar, aber wie paradox das auch klingen mag, so verwirrend. Ich setzte mich auf. „Wollen wir langsam runter? Es ist gleich Nachtruhe und Joel hatte mich letztens schon gefragt, wo wir immer sind."

„Was hast du ihm geantwortet?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Dass wir lernen, also für Literatur. Er war ein bisschen beleidigt, dass wir dafür Zeit haben, aber nicht für seine Lerngruppe."

Noah lachte. „Der Arme, wir sollten echt mal mit ihm Mathe machen."

„Hmmm,.. ich, also ich hatte sowieso gedacht, dass wir morgen alle zusammen was machen könnten? Nochmal ein Picknick oder so, bevor es wieder zu kalt dafür wird."

„Klingt gut. Du solltest es in die WhatsApp Gruppe schreiben."

„Mach ich."

Wir sahen uns nochmal an, bevor wir dann die alte Tür öffneten und uns vom Dachboden schlichen. Es war ein besonderer Ort. Ich hatte das Gefühl, dass wir beide dort ehrlicher zueinander waren, offenerer und mehr wie wir selbst.

„Das nächste Mal liest du vor", sagte Noah noch schnell vor dem Schlafen gehen.

„Versprochen."

„Versprochen."

„Leute, SCHLAFENSZEIT!!" Joel... 

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt