13. Noah

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Mein Füller flog über die Seiten des Notizbuches.

Ich erkenne das Risiko und habe Angst vor den Gefühlen, aber es hindert mich nie daran, sie trotzdem zu spüren. Das war schon immer so bei mir und deshalb war auch der Verlust jedes Mal so schmerzhaft. Ich weiß nicht, wie das bei Colin ist. Er will immer alles verstehen, was aber ist, wenn er es nicht kann? Wie verhält er sich dann? Und was ist, wenn es überhaupt nichts zu verstehen gibt, weil keine Gefühle da sind, die zu verstehen sind? Gleichzeitig- Gefühle sind nicht dazu da, um verstanden zu werden. Sie wollen gespürt werden, nicht mehr. Und ich tastete mich langsam voran, auch wenn sich alles in mir sofort darauf stürzen wollte...

Als Colin und ich gestern von unserem Mittagsschlaf auf dem Dachboden gekommen sind, war es bereits schon spät abends und dunkel. Wir lagen stundenlang dicht nebeneinander, mein Arm war um ihn gelegt und sein Kopf ruhte sanft auf meiner Schulter. Die kalte Herbstluft weckte uns auf und wir gingen leise, leicht zitternd ins Badezimmer und machten uns Bett fertig. Mehr war nicht passiert, aber es bedeutete mir so viel.

Keiner von uns verhielt sich so, als hätten wir eine Grenze überschritten. Aber es war auch nicht alles so wie immer. Als wir gestern Abend noch in der Mitte des Zimmers standen, dicht bei einander, sahen wir uns lange an. Niemand sagte auch nur ein Wort, stattdessen entwich uns ein kleines Lachen und unsere Augen wanderten durch das Zimmer und über unsere Gesichter. „Gute Nacht", flüsterten wir uns dann zu und gingen dann ins Bett. Ich glaubte, dass wir in diesem Moment beide wussten, dass irgendetwas zwischen uns passiert war. Ich wunderte mich nicht über diese Gefühle, ich wunderte mich nur, dass ich sie so leicht zuließ. Eigentlich war in mir immer eine kleine Spannung, eine kleine Abwehrhaltung gegen das Ankommen. Aber sie wurde kleiner und kleiner und kleiner...

Mein Handy vibrierte.

Colin: Wir warten auf dich :)

Ich atmete tief auf. Es war Samstagmorgen und wir wollten alle gemeinsam frühstücken. Mit wir meinte ich Joel, Ava, Julia und ihn, Colin. Dass wir zusammen frühstücken, hatte sich die letzte Woche so eingebettet und ich fand es echt schön, es war eine weitere Konstante in meinem Leben, die ich begrüßte. Also zog ich mir schnell etwas entspanntes über und ging zur Tür.

Doch bevor ich den Türgriff hinunter drückte, blieb ich nochmal stehen. Colin war heute mit Julia verabredet und ich wusste nicht genau, ob wir etwas zusammen unternehmen würden. Ich würde es mir wünschen. Also riss ich einen Zettel aus meinem Notizbuch heraus und schrieb in geschwungener Schrift in rot:

wenn du Zeit hast: 20 Uhr Dachboden, N

Vielleicht könnten wir einen Film schauen oder so. Mal sehen.

„Noah, auch mal da", warf Ava ein. „Endlich, ich habe Hunger!"

Ich sah sie fragend an. „Ihr hättet auch ohne mich schon anfangen können."

„Fand ich auch. Aber Colin meinte, es sei unhöflich. Aber jetzt wo du da bist-", sie griff nach ihrem Brötchen und biss rein.

Ich setzte mich neben Ava und somit gegenüber von Colin. „Hey", sagte er.

„Hey." Wir hielten den Blickkontakt, bis mir etwas einfiel: der Zettel. Ich musste Colin den Zettel noch irgendwie unter schieben. Ich sah mich um und fand die Erdbeermarmelade, die Colin jeden morgen auf sein Brot aß. Dann nahm ich das Glas zu mir, legte den Zettels schnell darunter, so dass noch eine kleine Ecke herausblickte und schob sie schweigend zu ihm rüber. Er bemerkte den Zettelchen sofort, legte ihn auf seinen Schoß und warf einen Blick darauf.

Er lächelte mich an.

Es war ein ja.

„Und, was macht ihr alle heute so?", fragte Julia in die Runde, sprach dann aber sofort weiter. „Colin und ich sind heute den ganzen Tag draußen auf der Bühne und lernen meinen Text. Ihr hättet ihn mal letztes Jahr erleben müssen, er war gar nicht so schlecht als Schauspieler."

„Du warst im Theatermodul?", fragte Joel ihn. „Bei deinem naturwissenschaftlichen Talent finde ich es schon verschwenderisch, dass du im Literaturmodul bist. Du hättest mit zu mir kommen sollen."

„Leute, wir hatten das Thema schonmal. Keine Schul-Talks am frühen morgen!! Und schon gar nicht am Wochenende". Ava hatte eindeutig Recht.

„Ja ja, ich sag ja nur."

„Also nochmal, was macht ihr heute?"

„Fahrrad reparieren", schob Ava ein. „Und zocken." Wir sahen sie alle an und grinsten. „Was schaut ihr so? Es ist Samstag, da werde ich mich sicherlich nicht wie Joel mit Mathefreaks zum Lernen verabreden."

„Hey! Wir sind keine Mathefreaks, wir sind einfach nur Schüler:innen, denen ihr Abschluss und ihre Weiterbildung nicht völlig egal ist." Ava verdrehte die Augen, lachte dann aber. Es war lustig, wie Ava und Joel sich ständig neckten und die beiden wussten auch, dass es nicht böse gemeint war.

„Und du Noah? Was machst du heute?" Colin sah mich an.

„Nichts bestimmtes. Vielleicht gehe ich in die Stadt, kaufe mir ein neues Buch... oder einen Regenschirm." Ich zwinkerte ihm zu.

„Bücherfreak", sagte Joel daraufhin ironisch und wir lachte alle. Ich mochte unsere kleine Gruppe. Unsere WhatsApp Gruppe hieß „Die fünft Freunde". Ich fand, dass Joel mit seiner verschruppelten Frisur Timmy war, der Hund.

...

Der Tag verging langsamer als sonst. Eigentlich sollte ich froh darüber sein. Es war Wochenende, alle Hausaufgaben sind dank Colin erledigt und ich hatte frei. Aber da ich die letzte Woche ausschließlich mit Colin verbrachte, fiel es mir plötzlich etwas schwer, alleine Zeit zu verbringen. Ich las mich ein bisschen durch meinen Bücherschrank und hörte Musik. Durch meine Kopfhörer spielte das Stück „Drowning Love" und in meiner Hand lag ein altes Gedichtband. Es hieß „Das Buch der Gedichte" und hatte ein altes, rotes Cover. Auf über 650 Seiten befanden sich Gedichte von allen möglichen Autor:innen.

Gegen halb acht entschied ich mich dann dazu, in die Küche zu gehen, ein paar Snacks zusammenzustellen, das Gedichtbuch mitzunehmen und auf den Dachboden zu gehen.

Dann wartete ich. Ich wartete und wartete und wartete.

19:55 Uhr.

19:56 Uhr.

19:57 Uhr.

19:58 Uhr.

19:59 Uhr.

20 Uhr. Genau zum Glockenschlag öffnete sich die Tür und Colin trat herein.

„Noah", sagte er leise und kam langsam auf mich zu.

„Colin", antwortete ich und richtete mich auf. Wir standen uns wie gestern Abend einfach nur gegenüber. Doch zur selben Sekunde überbrückten wir die letzten Zentimeter und umarmten uns.

Es war eine kurze Umarmung, aber ich hatte das Gefühl, dass sie nötig war. Spannung viel ab und wir atmeten beide kurz laut auf.

„Wie war dein Tag mit Julia?"

„Gut, sehr gut. Es ist schön zu sehen, wie sehr sie das Theater liebt."

„Ich muss zugeben, ich war überrascht, als ich heute Morgen erfahren habe, dass du auch im Theatermodul warst. Aber es ergibt Sinn. In der ersten Stunden des Literaturmoduls, als wir die Gedichte vorgelesen haben, hattest du einen besonderen Zugang zu deinem Gedicht. Du weißt, wie mit Texten umzugehen ist."

Colin sah etwas verlegen auf den Boden. „Du warst auch gut... ich habe dir gerne zugehört..."

Er schien noch etwas sagen zu wollen, also wartete ich und gab ihm die Zeit.

„Kannst du mir vorlesen?"

Ich sah ihn an.

„Bitte?"

„Ich habe ein Gedichtbuch mit hochgebracht", sagte ich automatisch. Warum tat ich das? Ich war gerade viel zu aufgeregt, um vorzulesen. Aber als er aufstrahlte, konnte und wollte ich keinen Rückzieher machen. Ich nickte Richtung Sitzkissen und wir lagen uns hinein.

Zitternd atmete ich ein und aus und wendete mich dann dem Buch zu. Nach ein paar weiteren kraftvollen Atemzüge fing ich an, laut vorzulesen: .....

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt