19. Noah

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Ich liebte es, Colin bei der Arbeit zu beobachten. Er widmete sich ganz konzentriert den Büchern, las manchmal beim Einräumen Klappentexte und summte leise vor sich hin. So wie auch in diesem Moment. Colin und ich wechselten uns mit der Arbeit immer ab. Also saß ich jetzt an einem der Tische in der Bibliothek und arbeitete an unserem Literatur Projekt. Es fehlte nur noch der letzte Feinschliff und ich suchte nach einer Idee, wie wir das Ende gestalten könnten, um alles perfekt abzurunden.

Von draußen hörte ich die Glockenschläge und zählte sie. 16 Uhr. Colin hatte Feierabend. Ich sah durch den Raum voller weißer Regale mit unzähligen Büchern und hielt nach ihm Ausschau. Er war gerade dabei, das letzte Buch von seinem Wagen einzuräumen, blätterte aber natürlich nochmal durch die Seiten. Bei diesem Anblick lächelte ich liebevoll auf. Es war ein so wunderschöner Anblick: Colin lesend und umgeben von tausenden von Büchern. Er liebt die Literatur sehr und seitdem ich ihn kannte, hatte er meine Leidenschaft für sie ebenfalls verstärkt.

Ich räumte meine Schreibsachen und mein iPad in meinen Rucksack und stand auf. Dann ging ich schleichend von hinten auf Colin zu, beugte mich vor und flüsterte in sein Ohr: „Feierabend." Er schien sich kurz erschrocken zu haben und atmete auf. Dann verfiel er aber in ein stilles Lachen und ließ sich ein wenig nach hinten fallen. Ich schlang meine Arme um seinen Unterkörper und ich sah, dass er seine Augen geschlossen hatte. Es war ungemein schön, wie leicht uns diese Nähe mittlerweile fiel, was sie aber nicht weniger besonders, aufregend oder wertvoll machte.

Bilder schossen mir durch den Kopf: vor ein paar Tagen auf dem Dachboden fuhr er mit seinen Fingern auf meiner Haut entlang und berührte dabei meine Lippen. Seit diesem Moment fühle ich diese Berührung noch immer. Dieser leichte Druck auf meinen Lippen war unvergänglich und erinnerte mich jede Sekunde daran, wie sehr und auf welche Weise ich Colin mochte. Aber wir kennen uns auch erst seit nur knapp zwei Monaten und ich will nicht, dass alles zu schnell läuft und es für uns beide zu viel wird. Zeit. Ich will uns beiden ganz viel Zeit schenken. Wir können uns in Ruhe kennenlernen, ohne uns eine Definition oder einen Stempel zu geben. Alles darf sich entwickeln, aber nichts muss. Ich glaube, dass so die schönsten Beziehungen entstehen, weil sich Menschen so ihren Gefühlen hingeben und ganz intuitiv zueinander finden.

Ich lockerte meine Arme und Colin drehte sich um. „Ich bringe kurz den Wagen weg. Warte hier auf mich, okay? Ich muss dir gleich noch etwas zeigen."

„Okay", flüsterte ich, völlig gespannt, was gleich auf mich zukommen wird. Ich sah ihm dabei zu, wie er mit dem leeren Bücherwagen im Lagerraum verschwand und nach wenigen Minuten wieder zu mir zurückkam.

„Folg mir", war alles, was er zu mir sagte. Ich konnte und wollte keine Sekunde überlegen und tat, was er gesagt hatte. Wir gingen quer durch die Bibliothek, passierten kleine, unscheinbare Zwischengänge und gingen viele viele Treppen hinauf. Nach einer Zeit befanden wir uns in einem Bereich, den ich noch nie zuvor gesehen hatte und der auch nicht für normale Besucher:innen zugänglich zu sein schien.

Doch plötzlich packte Colin mich am Arm und drückte mich ein paar Schritte nach hinten gegen die Wand. Fragend und leicht panisch sah ich ihn an, bis ich Schritte einer anderen Person wahrnahm.

„Da ist jemand", flüsterte er kaum hörbar. Als ich meinen Mund öffnete und kichern musste, nahm er seine andere Hand und hielt sie mir dagegen. Es war gerade wohl etwas ernster, als mir bewusst war. Circa eine halbe Minute verweilten wir so, ich spürte sein Atem auf meiner Haut und sah in seine konzentrierten Augen, die weiterhin den Gang scannten. Dann nahm er wieder seine Hand aus meinem Gesicht.

„Sorry, aber es darf uns niemand erwischen. Wir dürfen hier eigentlich nicht sein."

„Das ist mir schon aufgefallen", antwortete ich.

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt