23. Noah

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Herzlich Willkommen vor der Bibliothèque nationale de France. Ich freue mich sehr, euch eines der bedeutendsten kulturellen Institutionen Frankreichs vorstellen zu dürfen. Wir stehen gerade vor einem Gebäude, das im Jahr 1368 gegründet wurde und somit eine der größten Bibliotheken weltweit ist. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich hier einige Schätze angesammelt, die weitaus über Bücher hinaus reichen: historische Dokumente, Bilder, Karten, Zeitschriften, Kunstwerke... es ist ein einzigartiges kulturelles Erbe. Während unserer Rundführung werdet ihr viel über die Architektur erfahren, die Geschichte der Bibliothek kennenlernen und zahlreiche unserer Sammlungen entdecken dürfen. Ich werde euch in verschiedene Bereiche führen und euch einen allgemeinen Überblick verschaffen. Nach dieser gemeinsamen Rundführung erhaltet ihr dann aber auch einen Orientierungsplan und dürft euch für eine Stunde selbstständig im Gebäude aufhalten, um euren eigenen Interessen zu folgen. Bei Fragen stehe ich euch natürlich jeder Zeit zur Verfügung. Und jetzt... jetzt werden wir gemeinsam hineingehen. Ich wünsche euch viel Spaß!"

Gespannt sah ich zu Colin. Die letzten zwei Abende lagen wir wieder zusammen im Bett und haben uns viel mit dieser Bibliothek beschäftigt. Es war definitiv unser Highlight der Kursfahrt und der Tag, den wir uns beide am meisten ersehnt hatten. Ich spürte einfach, dass heute etwas ganz besonderes passieren wird.

Als wir das Gebäude betraten, erwartete uns eine riesige, umwerfende Halle. Die ersten Sekunden waren unfassbar, ich wusste nicht, wohin ich schauen oder was ich zuerst meine Aufmerksamkeit schenken soll. Ich konnte nur die unzähligen Arbeitsflächen und Stühle sehen, als ich dann aber nach oben sah, war das eigentliche Wunder zu erkennen. Im gesamten Saal befanden sich an den Wänden beleuchtete und deckenhohe Regale, die wie Tore aussahen und in denen jeweils hunderte von Büchern standen. Über jedes dieser Büchertore war ein rundes, bemustertes Fenster, während die Decke selbst fast eine reine Glasdecke war. Es war wie ein Zauber: wir betraten dieses Gebäude und wir waren ab der ersten Sekunde genau von diesem Anblick gefesselt. Kein Wort wurde mehr gesprochen, kein Gedanke beherrschte mehr den Kopf... es waren nur noch die Stille und die Bücher da.

Die nächsten zwei Stunden erhielten wir Informationen, Informationen, Informationen und noch mehr Informationen. Wir wanderten von Raum zu Raum, schauten und aktuelle Ausstellungen an und betrachteten einzigartige, originale Manuskripte von vielen Schriftsteller:innen. Ich nahm jede Sekunde in mich auf und versuchte, so viel wie möglich zu sehen und zu fotografieren. Ich machte auch ein paar Bilder von Colin: wie er vor diesem gigantischen Bücherregal stand und ein Buch heraus nahm, wie er vor einem alten Klavier saß oder wie er sich ein altes Gemälde ansah... jedes dieser Fotos war einfach wunderschön.

Nach dem Rundgang erhielten wir einen Orientierungsplan, den ich aber sofort wegsteckte. Colin sah mich kurz verwirrt an, bis er sich an unser Gespräch zu erinnern schien.


„Ich würde mich gerne dort mit dir verlaufen."

„Verlaufen?"

„Ja, damit wir gemeinsam für immer dort bleiben können."


Er kam näher auf mich zu und flüsterte mir ins Ohr: „Ich möchte mich hier auch mit dir verlaufen."

Ich lächelte ihn an, nahm seine Hand und zog uns in irgendeine unbekannte Richtung. Ohne darauf zu achten, was um uns herum geschah oder in welchem Bereich der Bibliothek wir uns befanden, liefen wir minutenlang umher. Nach einer Zeit wirkte alles wie ein riesiges Bücherlabyrinth, alle Orientierungspunkte verschwanden, es gab keine Anfänge und keine Grenzen mehr. Nur noch Colin und ich waren da.

Hörst du das?", fragte Colin mich und ich lauschte auf. „Da spielt irgendwo Musik..."

„Stimmt..."

„Es klingt schön. Komm, wir folgen der Melodie."

In nun langsamen Schritten suchten wir den Ort mit dieser Melodie auf. Es gab noch viele kleinere Gänge und Abzweigungen, die wir während des Rundganges nicht entdeckt hatten und diese jetzt gemeinsam mit Colin entlang zu gehen, fühlte sich so an, als wären wir in einer neuen Welt. Es war wie an unserem ersten Tag hier in Paris, als wir uns verlaufen und so die alte Bibliothek gefunden hatten.

Mit jedem Schritt wurde die Melodie deutlicher, bis wir Sekunden später den Raum entdeckten. 

Die Tür war geöffnet und wir sahen hinein: es wirkte wie ein kleines Wohnzimmer, überall waren Bücherregale, Poster von Musikinstrumenten hingen an der Wand und vereinzelte Sessel standen im Raum verteilt. Neben einem Sessel im hinteren Teil des Raumes stand ein alter Plattenspieler auf einem kleinen Holzschränkchen. Die drei riesigen Fenster beleuchteten den Raum mit natürlichem Licht und schafften mit dem Ausblick auf den Garten eine so naturverbundenen Atmosphäre.

Ich kannte das Musikstück nicht, aber irgendwie sagte es mir, dass wir hier richtig waren. Also sah ich erwartungsvoll zu Colin, der nickte und wir betraten den Raum. Wir wanderten ein wenig durch die Reihen der Bücherregale, so wie wir es auch immer in der Bibliothek der Schule taten. Dabei schlug mein Herz jedes Mal ein wenig schneller, wenn ich durch ein paar Bücher Colin sah.

Plötzlich erinnerte ich mich wieder an den Druck auf meinen Lippen, den Colin mit seinen zarten Fingern hinterließ, wahrscheinlich für immer. Intuitiv ging ich zu ihm, nahm ihn an beiden Händen und ging ein paar Schritte rückwärts. Als ich einen der Sessel an meinen Beinen spürte, ließ ich mich auf den Boden sacken und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Colin setzte sich mir gegenüber und legte seine Hände dann direkt auf meine Beine

Und jetzt waren wir hier, hier in einem Traum.

Die späte Nachmittagssonne im Herbst warf warme Lichtstrahlen durch die riesigen Fenster und tauchte den Raum in eine sanfte, goldene Glut, in der wir beide versanken. Unsere Blicke flackerten, unsere Atemzüge wurden schneller und unregelmäßiger. Ich legte meine Hand auf seine Brust und spürte, dass sein Herz genauso schnell schlug wie meines. Wir sahen uns an und in diesen Sekunden gab Colin mir die Möglichkeit, mir alles zwischen uns zu erträumen. Also hob ich langsam meine Hand und berührte mit meinen Fingerspitzen vorsichtig Colin's Wange. Eine Geste so zärtlich, als würde ich die kostbarsten Manuskripte der Welt in meinen Händen halten. 

„Noah", flüsterte Colin, seine Stimme wie ein Hauch von Wind.

„Colin", gab ich flüsternd zurück.

Unser Lächeln wurde breiter und unsere Augen ruhten nun endgültig auf den Lippen des anderen. Colinˋs Atem stockte, er neigte seinen Kopf leicht zur Seite. Wir überbrückten die letzten Zentimeter, Millimeter... bis unsere Lippen sich berührten und endlich, endlich, endlich, aufeinander trafen.

Es war ein Kuss, der so sanft und vorsichtig war, so voller Wärme, die die Welt um uns herum verblassen ließ. Ich gab mich diesem Kuss, unseren Berührungen und allem, was diesen Moment ausmachte, völlig hin. Wir katapultieren uns gemeinsam in eine Zwischenwelt, die ich nie wieder verlassen wollte.

Das Musikstück war noch immer im Hintergrund zu hören und sie wurde zur Melodie dieses Momentes, eine Melodie, die ich niemals mehr vergessen werde. Es spielte weiter und weiter und weiter, begleitete uns in dieser zärtlichen Intimität und schuf eine emotionale Kulisse, als wären wir die Protagonisten eines Liebesgedichtes.

Als sich unsere Lippen lösten, blieben wir eng beieinander und unsere Stirne berührten sich. Ich konnte spüren, dass er grinste und auch ich war überglücklich. Immer wieder zogen wir uns in einen leichten Traum von Küssen und grinsten in diese Berührung unserer Lippen hinein.

In diesem Moment hatten wir ein Kapitel in unserem Leben aufgeschlagen, das von Zärtlichkeit, Liebe und der Magie des Moments erfüllt war. Und ich war mir sicher, dass wir es niemals enden lassen werden. 

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt