7. Noah

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Ich freute mich sehr auf das Literaturmodul, auf die darauffolgende Mathe- und Geschichtsstunde aber eher nicht. So gar nicht. Es wird das komplette Kontrastprogramm zu der Stunde sein, in der ich mich gerade befand.

Unser Modul war mit nur 15 Schüler:innen sehr überschaubar, aber das war gerade das schöne daran. Wir waren eine kleine, stille Gruppe, die unsere Schulbibliothek zu schätzen wusste, die den Geruch von Büchern liebte und am liebsten jedes Buch der Welt gelesen haben wollte. Richtige Klischees, aber was soll ich sagen: es ist meine Welt.

So saßen wir alle statt auf Stühlen auf dem Boden in einem Kreis zusammen und passend zu dem Raum und seinem Charme zog ein kleines Sommergewitter vorbei. Es wurde dunkler und das regelmäßige Rauschen des Regens war zu hören. Die perfekte Stimmung für einen Tee und ein gutes Buch.

„Natürlich ist die Theorie und die Analyse der Texte wichtig und auch damit werden wir uns im Verlauf dieses Schuljahres auseinandersetzen, doch das, worauf ihr immer zuerst achten müsst, ist eure Intuition", erklärte uns Frau Stocker. „Euer Gefühl für Sprache und Rhythmus leitet euch durch Gedichte, Essays, Romane- durch jedes geschriebene Wort und jedes Wort, das ihr schreiben werdet. Um mir einen Überblick zu verschaffen, wie weit ihr seid, teile ich euch Gedichte aus. Lest sie euch kurz leise für euch durch und präsentiert sie dann gleich laut vor der Klasse. Denkt nicht so viel nach, vertraut auf euch!"

Interessante Aufgabenstellung.

Nach ein paar Minuten lasen alle nach und nach ein Gedicht vor und Frau Stocker sagte eine paar Worte dazu. Sie hatte Recht, jede:r hatte eine eigene Art und Weise, das Gedicht vorzustellen, was natürlich aber auch von dem Inhalt abhängig war.

„Machen wir mir dir weiter, Colin. Du kannst gerne loslegen."

„Okay... also, also ich habe das Gedicht „Der Genesende" von Nietzsche...", sagte er.

Als Colin anfing, das Gedicht vorzutragen, nahm ich nur noch vereinzelte, zusammenhangslose Verse wahr...


...Da hat ein Sturmwind angegriffen...

...Mit eignem Herzenblut genäht...

...Das rötliche Siegel meiner Brust...

...Ich kann dir nicht mein Herz ergeben...


Es ist ein wunderschönes Gedicht, keine Frage, aber wie Frau Stocker schon sagte, ist auch die Stimme der Person, wichtig, die das Gedicht liest. Und die von Colin gefiel mir sehr. Er ging an jedes Wort mit einer ganz einfühlsamen Vorsicht heran, fast schon so, als hätte er Angst und wich davor weg. Aber es war schön. Er gab dem Gedicht mehr Gewicht, mehr Stärke.

„Colin, auch das war große Klasse. Es ist gut, dass du dir Zeit nimmst", gab Frau Stocker als Feedback. „Noah, du bist dran."

Ich sah nochmal auf das Gedicht und stand dann auf. „Mein Gedicht ist von Walt Whitman und heißt Calamus...

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt