15. Noah

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Es war ein warmer Herbsttag und wie Colin gestern vorgeschlagen hatte, waren wir jetzt alle zusammen picknicken. Wir haben uns einen schönen Platz unter einem Baum ausgesucht, ein paar Äste und Blätter zur Seite geschoben und die große Decke auf der Wiese ausgebreitet.

Ich lehnte mich gegen den Baum, schloss meine Augen und seufzte zufrieden. Vogelzwitschern, Herbstluft, Wind- ich nahm alles in mir auf. Das Leben war gut.

„Die Zimtrollen sind wirklich lecker, Colin", sagte Ava zu ihm und nahm sich ihre dritte.

„Danke, Noah hat mir heute Morgen dabei geholfen."

Ich lachte auf. „Ich habe nur den Zimt und Zucker darauf verstreut und ihn dann..."

„... aus Versehen auf den Boden gekippt", beendete Colin meinen Satz.

„Jap, genau. Passiert den Besten."

„Was auch immer, die Dinger sind gut", meine Ava mit vollem Mund.

So saßen wir fünf da und redeten über alles mögliche. Es war spannend, dass wir alle so unterschiedlich sind und trotzdem als Gruppe gut miteinander funktionierten. Wir hatten eine tolle Dynamik, konnten über Joelˋs Start Up Ideen lachen, aber auch emotionalere Themen besprechen, zum Beispiel über die von Ava. Sie erzählte uns von einem Mädchen, das eine Stufe über ihr war und das Ava sehr mochte. Was heißt mögen- Ava war in sie verliebt und sie hatten auch schon miteinander gesprochen, aber es war nicht leicht für sie, den Kontakt zu halten.

„Wir haben nur einen Kurs miteinander, sonst sehe ich sie kaum. Und in dieser Zeit ist es einfach super schwierig, mit ihr ein tieferes Gespräch aufzubauen oder den richtigen Zeitpunkt zu finden, um zu fragen, ob sie Lust auf ein Treffen hat."

„Habt ihr vielleicht bald ein paar Projekte, die ihr zusammen machen könntet?", fragte Colin sie.

„Ja, aber sie ist sehr beliebt. Ich glaube nicht, dass sie die ausgerechnet mit mir zusammen machen möchte."

„Du musst nur herausfinden, wie sie tickt", meinte Joel zu ihr und zuckte leicht mit den Schultern. „Finde heraus, was ihre Hobbys sind, was ihr Lieblingsessen ist, welche Musik sie hört und zeig ihr dann, dass du dich ganz zufälligerweise auch für all die Sachen interessierst. Oder hack dich in ihr Handy und-"

„Okay, stopp Joel. Du hast schon recht, ich kann mich ja wirklich mal darüber schlau machen, aber ich werde mich ganz sicher nicht verstellen und schon gar nicht werde ich mich in ihr Handy hacken."

„Sorry, war nur so eine Idee. Ich habˋ davon halt keine Ahnung."

Ich sah zu Ava. „Wenn sie dich erstmal kennenlernt, dann wird sie dich ganz bestimmt mit anderen Augen sehen. Frag sie einfach, ob ihr was zusammen machen wollt, sei es auch nur zusammen lernen."

„Noah hat Recht", sagte Julia und nahm sie in den Arm. „Das wird schon alles seinen Lauf nehmen, du wirst sehen."

„Äh-... ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, aber kommt jemand mit? Ich wollte meinen Drachen fliegen lassen." Joel war deshalb schon den ganzen Morgen über aufgeregt.

Ava und Julia musste lachen. „Du bist so ein Klischee, Joel. Sobald der Herbst anfängt, holst du deinen Drachen raus. Aber gut, meinetwegen, ich komm mit."

„Same", fügte Ava noch hinzu „Sonst esse ich gleich noch die ganzen Zimtrollen auf."

Also blieben nur noch Colin und ich zurück und beobachteten, wie die drei den Drachen zum Fliegen brachten. Es war ein schönes Bild, wie sie auf der Wiese umher rannten, so völlig frei.

Immer mal wieder verschränkte Colin seine Arme um sich und strich sich mit den Händen darüber. Er zitterte, ihm war kalt. Ohne große Worte zog ich meine Übergangsjacke aus und legte sie auf seinen Schoß. Er sah auf die Jacke und dann lächelnd zu mir. Seine Augen sprachen ein „Danke" und er zog sich die Jacke an. Es war... es war schön, dass er sie annahm und anzog.

„Ich habe heute morgen noch das Gedichtbuch vom Dachboden geholt... also wenn du möchtest, kann ich dir vorlesen? Ich habe es versprochen."

Ich lächelte Colin zu und unser „Versprochen" von gestern Abend hallte in meinem Hinterkopf wieder. „Ja. Ja, auf jeden Fall, sehr gerne". Bis jetzt hatte ich ihn nur im Unterricht vorlesen hören, aber diese eine Stunde ging mir nicht mehr aus meinen Gedanken.

Er drehte sich um und nahm das Buch aus seinem Beutel hervor. Doch bevor er sich neben mich hinsetzten konnte, schwang ich von hinten leicht einen Arm um ihn, sodass er sich dann mit dem Kopf auf meinen Schoß legte. Den Arm behielt ich auf ihn. Nachdem er vor ein paar Tagen seinen Kopf auf meine Schulter lehnte, vermisste ich diese Nähe. Ich träumte davon, suchte sie und wollte diesen einen Moment unbedingt zurück.

Und so saß ich jetzt da- auf einer Decke unter einem Baum an einem wundervollen Herbsttag und mit einer einzigartigen Stimme, die mich völlig umhüllte. Colin hatte etwas Zaghaftes, als er von Seite zur Seite blätterte und las, aber diese Vorsicht gefiel mir unglaublich gut. Meine Augen waren die ganze Zeit über geschlossen, auch, als Colin irgendwann aufhörte, zu lesen. Wir lagen nur noch da und genossen die Stille. Zögernd hob er seine Hand und legte sie auf seinen Bauch, bis er sie schließlich auf meine legte, die noch immer auf seiner Brust ruhte. Es war ein beruhigendes Gefühl.

Irgendwann zog ein Schatten über mein Gesicht und ich öffnete wieder die Augen. Julia stand vor mir. „Ich will euch zwei ja nicht stören, aber es ziehen langsam dunkle Wolken auf und es könnte sein, dass es gleich regnet. Nur eine als kleine Vorwarnung." Dann widmete sie sich ihren Sachen zu und stopfte alles in ihre Tasche.

„Ich will nicht aufstehen", sagte Colin und atmete laut aus. Plötzlich donnerte es. „Oder vielleicht doch." Bevor er aufstand, drückte er nochmal meine Hand. Dann ließ er sie los und ich nahm meinen Arm von ihm. Als wir uns ansahen, bemerkte ich, dass er ziemlich rot im Gesicht war und ich spürte, dass sich meine Wangen ebenfalls färbten. Wir lachten beide kurz auf und senkten dann den Kopf.

Ava und Joel kamen ebenfalls zurückgelaufen. Wir spürten schon die ersten Regentropfen auf unserer Haut und beeilten uns, die Sachen schnell einzupacken. Dann machten wir uns auf den Weg.

Colin stupste mich leicht von der Seite an und fragte leise: „Möchtest du deine Jacke wieder haben?"

„Nein, alles gut". Er grinste und sah auf sich hinunter. Dann hob er seinen Blick wieder nach vorne, denn der Regen wurde stärker und wir mussten rennen.


Am Abend schrieb ich in mein Notizbuch:

Wir rannten und rannten und rannten im Regen, so, wie wir es schon so oft getan hatten... und ich hoffte sehr, dass wir es noch unendlich viele Male machen werden. Gemeinsam. 

||nolin|| gefunden in der liebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt