22. _Alan_

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Es war wirklich unglaublich. Erst rissen wir Späße darüber, dass mein kleiner Cousin Will sich endlich mal eine Freundin zulegen sollte, dann fanden wir heraus, dass er einen festen Freund hatte und auf griechisch mit ihm schrieb, wir bekamen eindeutig mit, dass unsere Großtante psychische Probleme hatte - ich hatte meiner schwangeren Freundin Valleri zugeflüstert, dass wir unsere zukünftige Tochter besser niemals in die Nähe dieser Irren ließen - und dann tauchte wie aus dem nichts Will Vater auf, der beinahe exakt wie Will aussah, nur dass ihm die Sommersprossen fehlten.

Konnte es noch verrückter werden? 

Eine halbe Stunde später machten wir uns auf zu einer kleinen Wanderung im nahen Wald. Es war früher Nachmittag und die Hitze des Tages begann bereits nachzulassen. Wills Vater, Jimmy, und Tante Naomi quatschten im Gehen, während wir Jungen uns an die Spitze der Gruppe setzten und unsererseits quatschten.
Ich hörte nicht so genau zu, was gerade Thema war. Valleri ging neben mir und ich hielt ihre Hand. Ich konnte mich nie entscheiden ob sie aussah wie ein Engel oder doch eher wie eine Elfe. Aber einmal hatte ich sie einfach aus Spaß Wölkchen genannt und das hatte ihr so gut gefallen, dass ich bei dem Spitznamen geblieben war.

Unter den Bäumen war es angenehm schattig, ruhig und kühl und die dünnen Lichtstrahlen ließen Valleris hellblonde Haare aussehen wie helle Spinnfäden. Manchmal schien sich ihre Haut in der Luft aufzulösen und das gab ihr eine wunderschön, geisterhafte Aura. Und sie schien nicht zu laufen sondern, trotz des dicken Babybauches, zu schweben. Kurz, ich war hoffnungslos verknallt. Ich überlegte gerade ob es irgendwie möglich wäre Valleri ein Stück in den Wald zu locken. Irgendwohin an einen besonders schönen Flecken Wald und ihr dort einen Heiratsantrag zu machen. Ich trug den Ring, den ich gekauft hatte, immer bei mir und wartete nur noch auf die einzigartige Gelegenheit.


Plötzlich riss Claras Angstschrei mich aus meinen Gedanken. Die Freundin meines großen Bruders machte einen riesigen Satz nach hinten und taumelte dabei gegen Fill. Auch Vivian kreischte nun und zeigte schockiert vor uns auf den Weg. Als ich sah was da auf uns zukam, zog ich meine Freundin an mich. Ich spürte Valleris hektischen Atem an meinem Hals und hörte die Schreie meiner Familie hinter mir. Ich keuchte erschrocken.

Vor uns auf dem Weg ballte sich eine Gruppe von... von irgendwas zusammen. Sie schienen Menschen zu sein, aber sie hatten einen Gestank von verwesendem Fleisch und dampften grau! Ihre Gesichter waren durchsichtig und wenn man zu genau hinschaute lösten sie sich auf. Doch am schlimmsten waren ihre Stimmen. Jeder dieser Leute schrie um Hilfe, jeder wollte gehört werden. Aber es waren die Stimmen von Toten.
Ich wusste, dass diese Leute tot sein mussten.

Wills Reaktion überraschte mich am meisten. Der Jüngste der Familie (meine Tochter war ja noch nicht geboren) stellte sich vor uns auf und ging in eine geduckte Kampfposition. Glaubte er etwa, er könne gegen diese Gestallten kämpfen? Auch Jimmy schob sich langsam vor, aber irgendwie war er.... unauffälliger geworden.

Jetzt hatte uns die Gruppe von Geistern bemerkt.
Mit erstaunlicher Geschwindigkeit kam sie auf uns zu, als ein hoher, unnatürlicher Schrei die Luft zerriss und mich zusammenfahren ließ.
Aus dem Blätterdach stieß eine menschengroße geierartige Gestallt auf die Geister herab, und schrie wieder entsetzlich. Die Geister wichen zurück. Das seltsame Wesen, das eine Mischung aus alter Frau, Fledermaus und Bestie zu sein schien, landete hinter der Gruppe und schrie erneut.
Noch eine Gestallt flog durch die Blätter herunter. Es war ein Mann, der in einen schwarzen zerfetzten Umhang gehüllt war. Aus seinem Rücken ragte ein Paar gigantischer Rabenflügel. Vor uns verdichteten sich die Schatten und als sie sich zurückzogen, stand dort ein Junge. Er drehte uns den Rücken zu, also sah ich nur, dass er vollkommen in schwarz gekleidet war, bis auf den blutroten Schal, der ihm um die Schultern lag.

Er zeigte mit einem schwarzen Schwert auf die Geister, der geflügelte Mann hob eine Hand und die Fledermauslady fauchte wütend.
Auf einmal wurden die Schatten des Waldes eindeutig nicht mehr ruhig und kühl. Sie schienen sich um uns herum zusammenzuziehen, als wollten sie uns verschlucken. In meiner Brust raste mein Herz und ich zog Valleri dichter an mich. Ich konnte spüren, wie sie zitterte.
Der Junge und der Mann sagten im Chor etwas in einer fremden Sprache. Die Erde rumpelte ungemütlich und unter den Geistern tat sich ein dunkler Spalt im Boden auf. Die ganze Gruppe wurde einfach eingesaugt und der Spalt verschloss sich wieder als wäre er nie dagewesen. Langsam zogen sich die Schatten zurück und das Licht wurde wieder heller.

Ich konnte nur dastehen und erschrocken keuchen, aber Valleri in meinen Armen wimmerte. Vorsichtig schaute ich zu ihr und erkannte in ihren Augen die selbe Angst, die ich auch spürte. Nur dass sie zu wissen schien, wovor sie Angst hatte.
Ich runzelte leicht die Stirn und wollte sie leise fragen wer diese Gestallten waren, aber jetzt drehte sich der Junge zu uns um. Er knurrte etwas über nervige Geister, die sich einbildeten nur, weil sie sich einen kleinen Ausflug genehmigten, könnten sie gleich eine ganze Familie Sterblicher erschrecken.
Ich verstand nicht was er meinte.

Auf seltsame, und ein wenig erschreckende Art und Weise, sah der Junge gut aus. Klein, aber muskulös, mit blasser Haut, tiefschwarzen Haare und dunklen Augen, die Aufmerksam hin und her huschten.
 Allerdings wusste ich nicht, was ich von seiner Kleidung halten sollte. Er trug schwarze Leggins und Stiefel, dazu ein silbernes Shirt, eine dunkelbraune Fliegerjacke und natürlich den roten Schal. Jetzt bemerkte ich auch die breiten silbernen Armreifen die an seine Unterarme geschnallt waren. Was mich überraschte war, dass ihm das ein wenig ein altgriechisches Aussehen gab. Der Junge drehte sich zu Will um und musterte erst ihn und dann den Rest von uns. Der Blick seiner dunklen Augen war so intensiv, dass mir kalte Schauer über den Rücken liefen. 

"Alles Okay, Will?", fragte der Junge. Ich hob schockiert den Kopf. Die beiden kannten sich? Mein Cousin antwortete: "Ja, danke, Nico. Deine Geister können einem echt einen Schrecken einjagen." 

Nico? Etwa Nico di Angelo? Wills fester Freund? Nein, das konnte nicht sein. Der Junge in dem Video hatte viel... freundlicher ausgesehen. Oder? Oder hatte ich mir das nur eingebildet, weil ich gewusst hatte, dass das in dem Video Wills Freund war und ich geglaubt hatte, dass Will sich nur mit Leuten abgab, die genauso lieb waren wie er?

Nico redete weiter: "Ich hab dir aber schon mal erzählt, dass die nur bellen und nicht beißen. Wir sind eh dabei sie wieder dingfest zu machen. Darf ich dir Thanatos und Alekto vorstellen?"
Will schaute die beiden Begleiter seines Freundes misstrauisch an. "Der Gott der Toten und eine der drei Furien. Wow. Ich bin beeindruckt.", murmelte er.
"Gott der Toten? Furie?", zischte ich ungläubig. Valleri nickte leicht. Sie hauchte mir ins Ohr: "Ja, und das ist kein Witz. Bitte Alan, ich erzähle dir alles wenn wir wieder in Sicherheit sind, aber mach sie nicht auf uns aufmerksam, ja?" In ihrer Stimme schwang echte Angst mit. Nur leider war es zu spät.
Die Fledermauslady, Alekto, flatterte auf und schien dabei auf die Größe eines Geiers zu schrumpfen, dann landete sie auf der Schulter von diesem Nico und schnupperte in unsere Richtung.
"Ruhig Alekto. Lass die armen Sterblichen in Frieden. Die hatten schon genug Schock für den Tag.", sagte Nico unbeeindruckt.
Jetzt mischte sich auch Jimmy ein. "Erstens, für Sterbliche war das genug Schock für die ganze Woche, zweitens du hast eine Furie auf der Schulter und zuckst nicht mal mit der Wimper?" Er schüttelte den Kopf. "Du überrascht mich immer wieder, Nico di Angelo."
Also war das wirklich Nico di Angelo? Und er und Wills Vater kannten sich? Langsam wurde ich ernsthaft verwirrt. Das Einzige, was mich davon abhielt in die Luft zu gehen und Jimmy, Will und Nico ein paar ernsthafte Fragen zu stellen, war Valleri, die mir die Hand leicht gegen die Brust drückte, um mich zurückzuhalten.

Solangelo 1 - Wills GeburtstagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt