Kapitel 9

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In den Tagen nach Harumis Rückkehr passierte nicht sonderlich viel. Sie muss jeden Tag ihre Wunden pflegen, was sie ziemlich anpisst, weil die Creme laut ihren Aussagen wie die Hölle brennt. Ich halte meinen Mund wie versprochen und sage keinem, dass Harumi vergewaltigt wurde. Nicht einmal die Polizei weiss etwas. Klar, Shain - oder wie er auch immer heißt - und der anderen mussten gefangen werden, aber wenn Harumi noch nicht bereit war, es anderen zu erzählen, dann halte ich eben auch dicht. Ich würde gerne helfen indem ich die Polizei rufe, aber ich würde Harumi nur verraten. Sie will es nicht und ich muss das akzeptieren.

Ich sitze auf den Treppen des Innenhofes und lese ein Buch. Die Sonne scheint und strahlt eine angenehme Wärme aus, die mich wie eine warme Decke umgibt. Das einzige Geräusch sind die zwitschernden Vögel in den Baumkronen. Harumi sitzt vor dem Tor des Klosters und blickt auf ihr Handy. Zumindest hat sie das getan, als ich das letzte Mal zu ihr hinüber schaute. „Harumi", ich blicke auf, um zu sehen, wer da ist. Eigentlich kann ich die Stimme zwar sofort seinem Besitzer zuordnen, aber trotzdem lenke ich meinen Blick auf Lloyd, der zu meiner Schwester geht. „Hm?" Harumi schaut von ihrem Handy auf. (Dann ist sie wohl wirklich schon die ganze Zeit am Handy.) Lloyd lässt sich neben sie fallen. Ich blicke kurz zu meinem Buch, als der grüne Ninja zu mir hinüberzusehen scheint. „Also ich... ehm..." Stotterte Lloyd. Er zieht seine Beine zu sich heran, sodass er im Schneidersitz sitzt. Dabei berührt sein Knie Harumis Oberschenkel ein wenig und sie zuckt zusammen. Meine Fresse, sie ist wirklich traumatisiert. Ich kenne mich nicht aus, aber das ist sicher nicht gesund, geschweige denn gut. Meiner Meinung nach würde sie eine Therapie oder sowas brauchen, um die ganze Scheisse zu verarbeiten, aber Harumi würde sich weigern. Wenn sie sich - außer mir - niemandem anvertrauen will, wird sie auch nicht zu einer Therapie wollen. Lloyd bemerkt entweder nicht, wie sehr Rumi zusammenzuckt oder er ignoriert es einfach. „... nun ja, ich wollte Fragen, ob du vielleicht mit mir ein Eis essen gehen möchtest oder sowas." Sagt Lloyd zu seinem Nebenan. Harumi schweigt betreten. Ich weiss genau, dass sie nicht will. Lloyd ist ein netter Typ und würde ihr nie etwas antun, ja. Und Harumi scheint ihn genauso zu mögen wie er sie, aber es ist verständlich, dass sie im Moment echt auf jegliche Menschen männlichen Geschlechts verzichten will. „Wir könnten in den Park oder so", fügt Lloyd hinzu, „oder sonst etwas zu zweit machen..." Harumi beißt sich auf die Lippen, sobald die Worte „zu zweit" aus Lloyds Mund kommen. Am liebsten würde ich gegen eine Wand laufen. Harumi sagt nichts und scheint zu überlegen, wie sie das ablehnen kann, ohne erstens mal Lloyd zu verletzen und ihm das Gefühl zu geben, sie würde ihn nicht mögen und zweitens mal ihm sagen zu müssen, wieso genau sie es nicht will. Ich lasse meinen Blick wieder zu meinem Buch gleiten. „Harumi?!":Rufe ich dann und tue so, als würde ich zuerst die Seite Fertig lesen wollen, bevor ich aufblicke. „Hast du vielleicht mein Haargummi?" Frage ich. Zuerst sieht Harumi mich verwirrt an. Dann scheint sie zu begreifen, dass ich ihr helfen wollte. „Welches?" Fragt sie zurück und steht auf. Sie sagt etwas zu Lloyd - wahrscheinlich eine Entschuldigung. „Das rote." Sage ich, ohne zu bemerken, dass Rumi ihre Haare mit einem roten Gummi zusammengebunden trägt. Lloyd meldet sich zu Wort. „In Harumis Haaren?" Ich schüttle schnell den Kopf. „Nicht dieses." Meine ich. Eigentlich habe ich gar keine roten Haargummis. Aber schwarze hatte ich tausende und mir fiel so schnell keine andere Farbe ein. „Eh, ja, komm", meint Rumi dann zögernd und ich folge ihr in unser Zimmer.

Harumi lässt sich seufzend auf ihre Hälfte des Bettes fallen. „Danke", seufzt sie. Ich schließe die Tür und setze mich neben meine kleine Schwester hin. „Gerne doch, ich helfe dir, wann immer es nötig ist", lächle ich. „Es ist nicht so, dass ich ihn nicht mag", fängt Harumi an, als müsse sie sich vor mir rechtfertigen. „Ich mag Lloyd, aber...", sie stoppt. „Aber du hast Angst, verständlich. An deiner Stelle wäre ich weggerannt, sobald er auf den Hof gekommen wäre." Sage ich. Harumi lacht ein bisschen. „Außerdem geht mich das zwischen Lloyd und dir sowieso nichts an. Mach dein Ding, ich sage nichts dazu." Schulterzuckend stehe ich auf. „Also für Ratschläge bin ich immer offen." Grinst Harumi. „Sehe ich aus, als würde ich etwas von Romantik verstehen?" Frage ich zurück. Harumi blickt ironisch zuerst mein Gesicht an und wandert mit ihrem Blick dann immer weiter runter bis zu meinen Füssen. „Ja, schon." Meint sie dann. Ich lache auf. „Dann irrst du dich wohl Schwesterherz." Erwidere ich. „Ich dachte du wärst 22." Harumi zieht eine Augenbraue hoch. „Bin ich ja", stimme ich zu, „nur hatte ich eben noch nie eine Beziehung." Sage ich. „Und warst du schonmal verknallt?" Ich schüttle den Kopf. „Come on, das kann nicht sein. Okay, vielleicht kennst du nur Ärsche. Ehm... hast du nie in einem Film oder so einen Jungen süß gefunden? Komm schon, beinahe jeder Mensch hat einen Schauspiel-Crush, wenn nicht sogar mehrere." Ich schüttle den Kopf. Erneut. Harumi sieht mich entgeistert an. „Oder ein Mädchen?" Fragt sie dann. Ich schüttle den Kopf wieder. Natürlich gab es Mädchen, die ich hübsch fand. Mädchen sind eben hübsch. Aber meistens war es eher der Wunsch, selbst so hübsch zu sein und nicht der Wunsch, eine Beziehung mit der Person zu haben oder sie zu küssen, ach was weiss ich. „Komm schon, sag jetzt nicht, du bist aromatisch, ich brauche dich als Unterstützung." Lacht Harumi. Es war offensichtlich ein Scherz, aber ich fand es trotzdem nicht so lustig. „Wieso kennst du dich so mit dem Thema aus?" Frage ich. Harumi sieht mich an. „Womit? Lgbtq? Tss, Kaiser-Krams. Weisst du, da der Kaiser und die Kaiserin immer dachten, ich würde in ihre Fußstapfen treten, haben mir Privatlehrer alles Mögliche beigebracht. Sachen wie lgbtq waren halt dabei. Ich meine, es wäre doch peinlich, wenn man mir plötzlich eine Frage stellen würde und ich sie nicht beantworten kann oder so. Sagten zumindest die beiden Kaiserlichen. Zudem finde ich das Thema interessant." Erklärt Harumi.

Wofür interessiert sie sich denn nicht? Sie war schon als Kind so. Sie fand so ziemlich alles Interessant. Verschiedene Denkweisen, Religionen, Geschlechter und so weiter. Deshalb überrascht es mich nicht sonderlich, dass sie es auch interessant findet, wenn Leute hakt nicht Straight sind. Klar, das ist nicht das einzige Beispiel. Es gibt wohl tausende, von denen ich vielleicht drei kenne. Ich könnte Beispiele mit Homosexuellen machen, oder mit Bisexuellen, mit Transgender, mit Nichtbinären und so weiter machen, aber wahrscheinlich würde ich sogar was dummes sagen, was unangebracht ist. Ich kenne mich eben nicht aus, wie schon tausendmal erwähnt.

„Nun ja, egal", meint Harumi und will aus dem Zimmer. „Bis da- fuck, Lloyd." Ich kichere, als ich bemerke, dass Harumi knallrot wird, da Lloyd vor der Tür steht. Im nächsten Moment fällt mir ein, dass sie keine Ausrede hat, um das Eisessen mit dem grünen Ninja abzusagen. „Harumi, dann steht das mit den Filmabenden?" Frage ich. „Klar", Harumi dreht sich kurz zu mir und dann wieder zu Lloyd. „Sorry Lloyd, das hatte ich vorhin vergessen. Ich will die nächsten sieben Abende je einen Film mit Jade schauen." Meint sie entschuldigend. „Genau! Harry Potter und genau zu sein." Okay, jetzt müssen wir wohl auch noch Filme besorgen. Eigentlich bin ich kein großer Harry Potter Fan. Ich schaue lieber irgendwelche Serien, aber Harry Potter ist der erste Film mit sieben Teilen, der mir einfällt. „Geht klar, wir können auch mal an einem Nachmittag." Harumi sieht mich schockiert an. Lloyd scheint zu bemerken, dass etwas nicht stimmt, aber er sagt nichts. „K-Klar, gerne", meint Harumi und schluckt schwer. Nun will ich wirklich gegen die Wand laufen. „Okay, cool", meint Lloyd nach kurzem Zögern. Er hat definitiv etwas bemerkt. „Morgen vielleicht?" Fragt er. Harumi nickt nur. Wahrscheinlich würde sie am liebsten den Kopf schütteln. „Wieso n-nicht? B-Bis dann." Antwortet sie und schließt die Tür, ohne Lloyds Antwort abzuwarten. „Shit, shit, shit", murmelt sie. „Das lief ja mal perfekt." Sage ich ironisch. „Scheisse, Jade, ich kann das nicht!" Beschwert Harumi sich. Um ehrlich zu sein weiss ich nicht, wie ich ihr helfen könnte. „Entweder gehst du hin, lässt dir eine gute Ausrede einfallen oder sagst ihm die Wahrheit." Gebe ich die Möglichkeiten bekannt. „Ich weiss. Und das ist es ja. Drei fliegt sofort raus!" Erwidert Harumi gekränkt. „Wieso?" Frage ich zurück. Vielleicht ist es dumm, es zu hinterfragen. Es ist okay, dass Rumi es nicht sagen will. Aber irgendwann muss sie es doch verraten, oder? „Na weil... W-Weil...", sie sieht zu Boden. „Weil Lloyd sich doch nur Sorgen machen würde und wütend werden würde. Er würde an nichts anderes denken und die ganze Zeit nach diesem Typen suchen." „Das würde ich auch liebend gerne tun." Kontere ich. Harumi schweigt. „Egal, tu was du willst, aber ich kann dir nicht helfen. Wirklich nicht." Sage ich und verlasse den Raum, um ins Wohnzimmer zu gehen.

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1517 Wörter

Jade || Roman ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt