In meinem Beruf spielt das Adrenalin und die Aufregung eine sehr große Rolle. Man ist eigentlich immer im Fokus und hat seine Augen überall. Der Puls steigt bei jeder neuen Aktion, bei jedem Kontakt der vielleicht falsch gesetzt wurde, jeder Sprung der nicht einfach nach oben und auf die gleiche Weise wieder nach unten geht. Manchmal sind es auch Momente, in denen man nicht damit gerechnet hat, dass etwas passieren kann, doch genau wegen solchen Situationen sollte man immer wachsam sein. Natürlich gibt es Faktoren, die den Fokus auf etwas anderes lenken und das Bild verschwimmen lassen, doch ich habe mittlerweile gelernt dies abzuschalten. Als Rettungssanitäterin hat man es während eines Spiels, vor allem wenn die eigene Freundin auf dem Platz steht, nicht immer leicht. Innerlich bleibt das Herz immer für einen Moment stehen, wenn sie etwas zu hart auf dem Boden aufkommt oder zu lange dort liegen bleibt.
Das Spiel ist mittlerweile ein ständiges hin und her. Man kann die Anspannung spüren und fast schon mit der Hand greifen und mich lässt das Gefühl nicht los, dass sich etwas anbahnt. Schon heute Morgen hatte ich ein merkwürdiges Gefühl, was meine Freundin einfach mit einem breiten Lächeln abgeschüttelt hat. Sydney war vollkommen überzeugt vom heutigen Spiel und dass sie es an sich reißen werden. Es ist das letzte Spiel der Saison und sie müssen sich einfach nur die drei Punkte holen, um die Meisterschaft zu sichern. Das Stadion ist von oben bis unten gefüllt. Voller als sonst hat es auch viele Fans der Männermannschaft ins Stadion getrieben.
Für die Spielerinnen ist das volle Stadion ein Traum, vor allem wenn es um die Meisterschaft und die darauf folgende Feier geht. In mir löst es jedoch leider ein unwohles Gefühl aus. Nicht, dass ich mich nicht für sie freue, aber als Sanitäterin, wo man immer alles im Blick haben muss, ist das eine reine Qual. Man wartet fast nur darauf, dass etwas passiert. Das Spiel ist unfassbar spannend und geht gerade in die Schlussphase. Potsdam, die schon sicher abgestiegen sind, wollen einen schönen Abschied und werfen in dieses Spiel alles, was sie haben. Bayern kämpft mittlerweile seit 75 Minuten mit der blauen Wand, die sie einfach nicht durchlassen wollen.
Dann passiert es endlich. Georgia Stanway reicht es und sie zieht einfach mal aus 25 Metern ab. Der Ball fliegt eine unfassbare Ewigkeit, bis er endlich in der oberen Ecke einschlägt. Sofort reißt es alle Bayernfans von ihren Plätzen und auch wenn Sydney wahrscheinlich gerade pure Freude empfindet, trifft mich das schlechte Gefühl, wie ein Schlag. Kurze Zeit später weiß ich auch warum. Mein Kollege hatte mich an der Jacke gepackt und deutet auf die Zuschauertribüne direkt hinter uns. Dort stand ein Kind, dass sich bei der ganzen Aufregung der anderen schwer am Kopf verletzt hat und die feiernde Menge drumherum bekommt es kaum mit. So schnell unsere Beine uns tragen, machen wir uns auf den Weg zu ihm und ich werfe mir den Sanitäterrucksack einfach über die Schulter. Ohne groß zu zögern, verschaffe ich mir Platz und dränge mir den Weg zu dem kleinen Jungen durch, der sich an seine Mutter gekrallt hat.
„Hey wir sind vom Rettungsdienst und wollen dir ein wenig helfen", spreche ich ihn an und beginne zusammen mit meinem Kollegen die Behandlung. Alles andere um uns herum, die feiernden Fans, die Mädels auf dem Platz, die ihr Tor feiern und die Trainerbank, die mittlerweile steht, blende ich vollkommen aus. Was ich jedoch nicht ausblenden kann, ist die Gruppe von jungen Männern neben uns, die schon deutlich zu viel getrunken haben und mich einfach nicht in Ruhe arbeiten lassen. „Darf ich mir deinen Kopf mal anschauen?", möchte ich von dem Jungen wissen und ignoriere angestrengt den mittlerweile dritten Rempler, der mich immer mehr zur Weißglut bringt. Doch wenn mein Kollege beginnen möchte, die Wunde richtig zu behandeln und ihm das Verbandszeug aus Versehen aus der Hand getreten wird, reicht es auch mir. Ich stehe von meinem Platz auf und will gerade etwas laut erwidern, da sehe ich nur den Ellenbogen geradewegs auf mich zufliegen. Schwarz. Mir ist für einen kurzen Moment vollkommen schwarz vor Augen und ich kann nicht einordnen, wo ich bin.
Ein Arm, der sich um meine Schulter gelegt hat, holt mich wieder zurück. Eine warme Flüssigkeit läuft mir über das Gesicht, meine Nase schmerzt und das Bild vor meinen Augen ist immer noch ein wenig verschwommen. „Komm, wir müssen hier raus, die Security kümmert sich um den Rest", dringt die Stimme meines Kollegen an mein Ohr, aber es hört sich alles an, wie in Watte eingehüllt. Mit wackeligen Beinen stolpere ich neben meinen Kollegen hinterher und halte mir die Hand unter die Nase. Erst jetzt nehme ich auch wieder das Spielfeld wahr und dass die Spielerinnen auch mitbekommen haben, dass etwas nicht zu stimmen scheint. In dem Moment kommt jedoch noch jemand und legt von der anderen Seite auch noch einen Arm um mich. Bevor ich das Stadion in Richtung Tunnel verlasse, fällt mein Blick auf Sydney, die mich mit besorgter Miene beobachtet.
Den Weg zum Behandlungsraum bekomme ich gar nicht richtig mit. Langsam lasse ich mich auf die Liege sinken und schließe für einen kurzen Moment erneut die Augen. Was war eigentlich gerade passiert? „Du hast mir einen wirklichen Schrecken eingejagt", höre ich die Stimme meines Kollegen, der sich neben mir auf einen Stuhl gesetzt hat und nach meiner Zustimmung damit beginnt mein Gesicht zu behandeln. „Du warst für einen kurzen Moment nicht ansprechbar und das Blut ist dir, wie ein Fluss aus der Nase gelaufen", erklärt er mir und ich kann nur ein wenig schmunzeln, froh darüber, dass die rote Flüssigkeit mittlerweile gestoppt wurde. „Zum Glück hatte ich gleich einen der besten Rettungssanitäter neben mir, die ich kenne", erwidere ich das erste Mal und er steigt in mein Lachen mit ein.
Für einen Augenblick ist es ruhig, bis es mir wie Schuppen von den Augen fällt. „Wie geht es dem Jungen? Wurde er auch behandelt?", will ich von ihm wissen und er nickt sofort. „Ja, die Security haben uns alle herausgeholt und ein anderes Sanitätsteam kümmert sich um ihn", erklärt er mir und ich atme erleichtert aus. Die erneute Ruhe wird jedoch wieder unterbrochen, wenn die Tür schwungvoll aufgerissen wird. Sydney Lohmann steht noch in voller Montur in der Tür und sucht leicht panisch den Raum ab. Ihr Gesichtsausdruck entspannt sich ein wenig, wenn unsere Augen sich treffen. „Schatz...", ist alles, was sie herausbringt, bevor sie zu mir an die Liege kommt. Ich höre das leichte Klackern ihrer Stollenschuhe auf dem Boden und drehe mich ein wenig in ihre Richtung. Mein Kollege macht sofort Platz, sodass sich die Münchnerin zu mir setzten und meine Hand in ihre nehmen kann.
„Was ist passiert?", flüstert sie leicht außer Atem und mustert mein Gesicht, das immer noch von Blut befleckt sein muss. Ich will gar nicht wissen, welche Farbe meine Nase mittlerweile angenommen hat. „Eure Fans haben sich wirklich sehr über euer Tor gefreut", erwidere ich mit einem schiefen Grinsen, was auch sie kurz zum Lachen bringt. „Ein Fan hat mich nicht gesehen, während wir einen Jungen behandelt haben und mich dann mit seinem Ellenbogen erwischt", erkläre ich ihr und sehe nur, wie sie mit dem Kopf schüttelt. „Wie kann sowas denn passieren? Warum machen sie denn keinen Platz, wenn ihr jemanden behandelt wollt?", regt die Münchnerin sich auf. Sie streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und greift dann nach einem Tuch. So vorsichtig wie möglich wischt sie mir das Blut aus dem Gesicht und ich kann sogar leichte Tränen in ihren Augen erkennen. Ich nehme ihre Hand in meine, sodass sie mich anschauen muss. „Hey, es ist halb so wild, okay. Eine blaue Nase und wahrscheinlich ein blaues Auge. Nichts, was nicht wieder verheilt", versuche ich sie zu beruhigen und ziehe sie ein weniger näher zu mir. „Schatz, es sieht so aus, als hätte dir jemand die Nase gebrochen", erwidert sie verzweifelt und streicht mir über die Wange. „Ich verstehe einfach nicht, wie sowas passieren kann. Wie wenig Respekt Leute vor anderen haben und vor allem vor denen, die eigentlich nur helfen wollen", steigert sie sich noch ein wenig weiter hinein. Ich merke, wie ihre Stimme sich leicht hebt und auch ihre Hände beginnen leicht zu zittern.
„Schatz, in meinem Job kann sowas nun mal passieren. Es ist immer mit einem bestimmten Risiko verbunden. Genauso, wie du dich auf dem Platz verletzen kannst, kann mir das auch bei einem Einsatz passieren", versuche ich sie erneut zu beruhigen. „Wenn du auf den Platz gehst, besteht immer die Möglichkeit, dass dir jemand ein Bein stellt oder zu einer falschen Grätsche ansetzt. Genauso kann es bei mir passieren, dass jemand vielleicht zu viel getrunken hat und ausholt oder jemand aus Panik anders handelt als gewöhnlich. Obwohl das Risiko besteht, machen wir den Job jedes Mal aufs neue. Ich liebe diesen Beruf und das Gefühl anderen zu helfen, genauso wie du es liebst Tore zu schießen und Menschen zu begeistern", beende ich meinen Vortrag und sehe, wie es hinter der Stirn von Sydney arbeitet. „Also musst du dir jedes Mal, wenn du mich über den Platz rennen siehst, solche Sorgen machen?", stellt Sydney entsetzt fest und ich kann ein leichtes Lachen nicht verkneifen. Ich habe ihr einen großen Vortrag gehalten und das ist alles, was bei ihr hängen geblieben ist. Unrecht hat sie natürlich nicht, aber ich will nicht, dass sie sich noch mehr hineinsteigert. „Es gehört zu meinem Job. Ich muss im Dienst immer wachsam sein und diesmal hat es halt nicht so gut funktioniert. Aber das ist jetzt auch nicht so wichtig", versuche ich vom Thema abzulenken. „Stimmt. Wir müssen uns erst mal um deine Nase kümmern. Die muss dringend untersucht werden." Ich will schon etwas erwidern und klarmachen, dass ich auch später noch zum Arzt gehen kann, werde aber sofort unterbrochen. „Sie hat recht. Deine Nase sieht wirklich nicht gut aus", meldet sich nun auch mein Kollege wieder zu Wort, weshalb ich ihm einen bösen Blick zuwerfe. Das Letzte, was meine Freundin gerade braucht, ist jemand, der ihre Sorgen auch noch unterstützt. „Wir fahren jetzt sofort ins Krankenhaus", fordert sie mich auf und greift nach meinen Sachen. „Auf keinen Fall. Du hast gerade die Meisterschaft gewonnen. Ich werde mit Jeff ins Krankenhaus fahren und du feierst schön", fordere ich sie auf und setzte mich leicht auf. Sofort merke ich, wie mir ein wenig schwindelig wird. Eine Hand an meinem Rücken hindert mich daran, von der Liege zu fallen und ich schaue direkt in die blauen Augen meiner Freundin. In dem Moment weiß ich, dass ich keine Chance gegen sie habe. Wir werden jetzt ins Krankenhaus fahren und die Diskussion über meinen Job und wie andere mich behandeln noch weiter führen. „Auf geht's du Profiboxerin", fordert sie mich schließlich auf und ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.
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