Fingerspitzen

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Michael schloss die Eingangstür auf und zerrte mich mit sich. Als müsste er etwas nachholen, zog er mich wieder ganz nah an sich heran. Ich konnte nichts von all dem begreifen, alles fühlte sich unreal an. Von der anfänglichen Nervosität, die Michael sonst immer mit sich trug, war kaum noch etwas zu spüren.
Aus blauen Augen schaute er mich an, trat mit dem Fuß die Tür hinter sich zu. Jede Sommersproße, jede Falte, jede Unebenheiten meiner Haut schien er sich ganz genau anzusehen. Die feinen Fältchen, die wie Sonnenstrahlen um seine Augen lagen, zogen sich zusammen. Überwältigt lächelte er mich an.
,,Du bist wahnsinnig schön, weißt du das ?" Fragte er und striff mir eine Strähne hinters Ohr. Mir fehlten noch immer die Worte. Die ganze Situation hatte mich wie ein Zug erfasst und er schliff mich immernoch mit. Schmetterlinge baten um Asyl und ich ließ sie alle in mir wohnen, jeden Winkel meines Körpers füllten sie aus. Noch nie erlebte ich einen besseren Rausch als diesen hier. Jetzt schon war ich besessen von diesem Gefühl und ich wollte, dass es niemals endete. Meine Finger fuhren die zarten Konturen seiner Hüfte auf und ab. Ich biss mir auf die Lippe, Michael schluckte schwer. Da war sie wieder, diese umwerfende Nervosität. Seine Pupillen weiteten sich als unser Blick sich wieder traf, zärtlich legte ich meine Lippen auf seine und forderte ein, wovon ich niemals genug bekommen könnte. Seine Lippen waren weich, die Hände, die sich darauf hin in meinen Nacken schoben und den Griff festigten, rau und warm. Mit dem Daumen fuhr er über meinen Kehlkopf. Ich erschauderte, als er die Kontrolle über mich ergriff und seine Zunge meine Lippen striff. Er versank in mir und ich gab mich ihm völlig hin, bis der Kuss langsam an Intensität abnahm. Mein Blut rauschte in meinen Ohren, mein Herz klopfte spürbar in meiner Brust. Einen letzten Kuss legte er zärtlich auf meinen Mundwinkel, dann neigte er sich zurück und lächelte mich sanft an.
,,Ich will dich gar nicht gehen lassen." Ich schob meine Unterlippe hervor und schaute ihn traurig an.
,,Ich will auch gar nicht gehen." Kuschelte ich mich an seine Brust und lauschte seinem rastlosem Herzschlag.
,,Dann komm mit mir."
Flüsterte er verlegen. Ich seufzte leise auf.
,,Ich muss doch morgen arbeiten. Der erste Wecker klingelt um halb fünf."
,,Ich weiß..." Nuschelte er und drückte sein Gesicht in mein Haar.
,,Tut mir leid." Klang ich enttäuscht.
Sein Daumen schob sich an mein Kinn und drückte es sanft nach oben. Ich lächelte wohlig auf.
,,Wir werden ganz sicher noch die ein oder andere Nacht kuscheln können."
Flüsterte er beinahe und küsste meine Stirn.
,,Und wir haben es ja nicht weit." Nuschelte er und grinste in meinen Haaransatz.

Ich stellte die Zahnbürste zurück in den Becher. Meine Wangen leuchteten feurig rot, als ich in den Spiegel schaute und mein Glück kaum fassen konnte. Alles an und in mir war von unermesslicher Liebe erfüllt. Das Gefühl seiner Fingerspitzen, die sich in meine Haut gruben, war noch immer ganz deutlich zu spüren. Ich zog mein Shirt über den Kopf, die Hose von den Beinen. Meine Arme und mein Dekolleté waren gebräunt, der Rest meines Körpers sah aus wie angenäht. Blass und weich. Die Dehnungsstreifen an meinen Oberschenkeln glänzten in dem grellen Licht der Neonröhre, die über dem Spiegel hing.
Ich pustete Luft aus meinen gespannten Lippen und batschte eine Hand auf meinen Bauch.
Michael war im Gegensatz zu mir so perfekt, dass es mich jetzt schon gruselte, wenn ich nur daran dachte dass er das hier irgendwann vielleicht sehen könnte.
Schnell schlüpfte ich in meinen Pyjama. Ab jetzt würde ich wieder mehr auf mich achten.

Der Morgen hing wie Fäden aus Zuckerwatte am Horizont. Die Sonne, die sich mittlerweile viel später am Himmel blicken ließ, begann die Regentropfen mit samten Strahlen zu trocknen. Das plätschern der Regenrinne wirkte beruhigend, als ich auf dem Balkon saß und eine Zigarette aus der Schachtel zog. Die letzte, schwörte ich mir. Pepper schlich mir ums Bein und mauzte gurrend auf.
,,Guten Morgen Peps." Schaute ich zu ihm runter und zog mein Bein etwas zur Seite. Sein Fell fühlte sich kalt an. Den Kaffee tauschte ich heute morgen ganz bewusst gegen einen grünen Tee ein. Pepper sprang mir auf den Schoß und machte dabei ein Geräusch, als wäre jemand auf eine Gummiente getreten. Er drehte sich mehrmals und pendelte immer wieder mit seinem Schwanz in meinem Gesicht herum.
,,Pfui, man Pepper." Wischte ich mir durchs Gesicht und staß ihn schließlich sanft um. Seine krallen massierten meine Oberschenkel und er begann zu schnurren. Drüben war noch alles still. Ich schloss die Augen und richtete mein Gesicht der Sonne zu, dann machten sich meine Gedanken auf den Weg zum gestrigen Abend. Ich kraulte Peppers Fell und ließ jedes Gefühl, das Michael mir gab Revue passieren.
Wie nachtwarmer Sand rieselte die Erinnerung über meinen Körper und kitzelte meine Haut. Ich schreckte auf, Pepper ergriff sofort die Flucht. Mein Handy vibrierte los und rutschte an die Tasse, die wie ein verstärker wirkte. Ich griff nach ihm und blickte auf das Kontaktfoto meines Kollegen Lars, dann fiel meine Aufmerksamkeit auf die Uhrzeit, die rechts oben in der Ecke des Displays eine Minute weiter sprang.
,,Scheiße!" Fluchte ich auf und sprang aus dem Stuhl.
,,Ich bin auf dem Weg. Gib mir zehn Minuten." Nahm ich das Gespräch an und biss mir auf die Unterlippe. Zehn Minuten waren utopisch, ich hatte nicht mal Schuhe an und allein mit dem Fahrrad war ich mindestens eine viertel Stunde unterwegs.
,,Marlie ? Ist denn alles okay ?"
,,Ja, ich hab getrödelt. Tut mir leid." Gab ich ehrlich zu. Sein Lachen ließ etwas Aufregung von mir abfallen.
,,Passiert. Wollte nur sicher gehen, dass es dir gut geht. Bis gleich dann."
Flötete er freundlich.
Ich ließ das Handy in meine Hosentasche verschwinden und quetschte mich hektisch in meine Sneaker.

,,Oh, tut mir so leid." Sprintete ich durch die Tür des Cafés und schmiss meine Tasche in die nächste Ecke. Lars wendete sich mir zu und grinste mich an.
,,Wie gesagt, passiert alles."
,,Guten Morgen." Flatterte auch Mona nun aus der Küche und steckte sich das Haar zurück. Das erste mal seit vielen Wochen standen wir wieder zu dritt im Cafè. Ich überlegte kurz, ob ich mich an die entspannte Lage überhaupt gewöhnen könnte und keine Langeweile aufkam, doch der Gedanke war so unnötig, wie die Meinung darüber, dass es entspannter werden würde. Natürlich lockte es die Leute vor die Tür, nachdem es Tage lang nur geregnet hatte.
Die Arbeitsteilung verlief katastrophal. Es benötigte viel mehr Absprache, wenn man plötzlich wieder einer mehr war. So brachte ich einem unserer Gäste einen Kaffee und stellte fest, dass er bereits einen in der Hand hielt. Unruhe keimte in mir auf. Was für eine peinliche Situation, zum Glück sah er mit einem Lachen darüber hinweg.
Ich drehte mich um und wollte zurück laufen, als Mona mit einem Tablett an mir vorbeifegte und mich beinahe umschmiss. Im letzten Moment wich ich mit einem aufgeschreckten Schrei aus und knallte rückwärts an einen anderen Körper. Hände griffen mich, der Kaffee schwappte über.
,,Vorsicht hübsche Frau."
Drückte sich seine Stimme in mein Genick. Jede Anspannung fiel ab und ich fühlte mich wie auf Wolken gebettet. Als ich mich umdrehte, schaute ich in sein wunderschönes Gesicht.
,,Ich hoffe du hast Zeit für eine Pause." Lächelte er und schaute sich im gefüllten Cafè um.
,,Die nehm ich mir einfach." Zuckte ich grinsend mit den Schultern, er legte eine Hand an meinen Arm und gab mir einen winzigen Kuss auf meine Lippen.
,,Ich warte draußen." Sagte er und ich schaute ihm nach, bis er aus der Tür verschwunden war.
Mein Körper bewegte sich schwerelos zurück zur Theke, wo ich wie immer einen Kaffee und einen Espresso für uns zubereitete. Lars Hand legte sich an meinen Rücken, dann beugte er sich zu mir.
,,Hat er dich gerade geküsst ?" Flüsterte er beinahe und funkelte mich neugierig an. Ich zog die gefüllte Tasse aus dem Automaten und konnte das Grinsen gar nicht unterdrücken.
,,Oh Marlie, ich freu mich so für dich!" Festigte er den griff an meiner Schulter und rüttelte kurz an mir.
,,Danke." Lächelte ich ihm zu und schnappte mir die Tassen.

Michael ließ sein Handy zurück in die Hosentasche sinken und rutschte näher an den Tisch, als ich zu ihm kam.
,,Hier ist ja richtig was los." Griff er zur Kaffeetasse und nahm den ersten Schluck. Ich seufzte auf.
,,Ja, das wird heute wieder spät und ich müsste eigentlich dringend mal wieder zu Mama."
,,Soll ich dich heute Abend fahren ?" Ich schüttelte den Kopf.
,,Nach Feierabend haben wir noch diese dämliche Teambesprechung mit meiner Chefin. Das wird zu spät. Ich werd morgen in der Pause gehen. Das hab ich ja eigentlich immer so gemacht, bis du dazwischen kamst." Kicherte ich. Michael hob die Augenbrauen.
,,Das wusste ich nicht."
,,Schon gut. Ich mag das hier." Legte ich eine Hand auf den Tisch. Sofort ergriff er sie und fing mein Lächeln auf.
,,Wir könnten auch jetzt schnell, wenns dich nicht stört." Ich pustete amüsiert Luft aus meinen gespannten Lippen.
,,Du hast es aber eilig. Glaub mir, mit meiner Mutter lassen wir uns besser noch Zeit."
,,Ich dachte nur.. naja ich fahr ja morgen Nachmittag und.." Druckste er etwas. Die Seifenblase zerplatzte augenblicklich. Eine ganze Woche ohne ihn, wo wir uns doch gerade so nah waren.
,,Achja."
Michael presste die Lippen aufeinander.
,,Es ist ja nur eine Woche und ich bin nur in Köln bei meinem Bruder. Also wenn mich die Sehnsucht packt, bin ich in etwa fünf Stunden zurück."
Verwundert schaute ich ihn an.
,,Du machst Urlaub bei deinem Bruder ? Kein Strand, kein Mittelmeer, keine Sonnenbräune ?"
Er lachte auf. Sein Daumen streichelte meinen Handrücken.
,,Er ist beruflich, genau wie ich, ziemlich viel unterwegs. Wir haben uns drei Jahre nicht gesehen, ich hab getourt und er hat an sämtlichen Sportevents rund um den Globus Teil genommen. Jetzt haben wir beide endlich wieder etwas länger Pause und dann besuchen wir uns. Also ja, das ist schon wie Urlaub irgendwie." Ich hatte mein Kinn in meine Hand gelegt und ihm gelauscht. Es war so schön ihm zu zusehen und zuzuhören.
,,Drei Jahre ist wirklich lang." Bemerkte ich. Er nickte.
,,Deswegen fühl ich mich gerade absolut zerrissen. Auf der einen Seite freu ich mich sehr auf das Wiedersehen, auf der anderen, möchte ich am liebsten hier bei dir sein."
Ich drückte seine Hand sanft zusammen.
,,Wie du schon sagtest, es ist nur eine Woche."
Entschlossen nickte er und schenkte mir ein herzerwärmendes Lächeln.
,,Seh ich dich trotzdem morgen noch kurz, bevor ich fahre ?"
,,Das bekomm ich sicher irgendwie organisiert."

꧁𝒮𝓉𝓊𝓇𝓏 𝒾𝓃𝓈 𝒢𝓁ü𝒸𝓀꧂ Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt