Get Up
Kapitel 4
Charles
4. September 2023
Italienische Riviera
2:46 Uhr
Er hatte sich nun seit Stunden wunderbar im Kreis gedreht.
Er war ausgerastet, er hatte alles aus sich rausgeschrien und war dann in seinem eigenen Schock gefangen gewesen. So lange, bis sich aus dem Nichts eine Hand auf seine Schulter gelegt hatte. Ein kurzer Blick reichte. Sie waren so gute Freunde geworden, sie verstanden sich ohne Worte.
Und statt direkt auf ihn einzureden, hatte Daniel sich einfach neben ihn gestellt und wartete ab. Seine Anwesenheit lie ihn immer ruhiger werden. Viele unterschätzten einfach, was für ein besonderer Mensch Daniel war. Seine Freundschaft zu Pierre war schon eine verdammt starke, aber die mit Daniel hatte noch einmal eine ganz andere Qualität. Ihm konnte er viele Dinge sagen, über die er sonst mit keinem sprach.
Er konnte sich denken, dass Lorenzo für Daniels Anwesenheit verantwortlich war. Zum Glück wusste Daniel Bescheid. Als sie damals entschieden hatten, etwas gegen diesen unglaublichen Plan zu unternehmen, war Daniel einer der ersten, die er einweihen wollte. Das hatte ihn selbst umgehauen und da hatte er ihn gut an seiner Seite brauchen können.
„Ich wusste, dass der Plan scheiße ist!", schoss es ihm irgendwann wütend über die Lippen.
Er hatte wirklich kein gutes Gefühl gehabt. Von Anfang an nicht. Aber egal, was sie unternommen hätten, es wäre immer ein Risiko gewesen. Er hätte nur ein Risiko bevorzugt, in dem Arthur nichts passieren konnte.
„Du wusstest auch, dass es keine Alternative gab", erinnerte Daniel ihn und das wusste er natürlich, aber seine Brust fühlte sich nach wie vor eng an und beim Gedanken an Arthur konnte er kaum atmen.
„Ich kann ihn einfach nicht verlieren. Nicht auch noch ihn", ließ er bei Daniel raus, was ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf ging und was er sonst niemandem sagen wollte.
„Dann gib ihn jetzt nicht auf. Atme mal ganz tief durch", riet Daniel ihm und er folgte diesem Einwand ohne ihn zu hinterfragen. Daniel hatte vollkommen recht. Er musste durchatmen, er musste den Kopf endlich freibekommen und er musste sich zwingen, nicht die ganze Zeit an den schlimmstmöglichen Ausgang zu denken.
Ihm ging immer wieder durch den Kopf, wie dieser Mist nur hatte passieren können...
„Ich wusste gleich, dass das schief geht, als Arthur mir schrieb, dass seine Termine abgesagt sind und er doch direkt mit nach Monaco fliegt", meinte er.
Das war nicht der Plan gewesen. Das war überhaupt nicht vorgesehen gewesen und er wusste doch sofort, dass sie das in Schwierigkeiten bringen würde. Nur, in dem Moment hatten sie auch nichts mehr tun können. Es war zu spät gewesen, um noch irgendwas zu ändern.
„Und er kannte das Risiko auch. Einen von euch hätten sie bekommen und Arthur würde es auch schlecht gehen, wenn die jetzt dich hätten", erkannte Daniel, dass man es jetzt drehen und wenden konnte, wie man wollte. Es war beschissen und es blieb auch beschissen. Darüber brauchen sie gar nicht reden.
„Du hast recht. Entschuldige, ich..." Er suchte nach Worten und fand keine.
„Charles, es ist ganz normal, dass du da durch den Wind bist. Das wäre jeder", wandte Daniel ein und da wurde ihm erst so richtig bewusst, wie verzweifelt er innerlich gegen diese ganzen Gefühle anzugehen versuchte, die ihn einfach völlig überrollten. Langsam wurde wenigstens der Kopf etwas klarer, aber der Schmerz verschwand dabei nicht.
„Und was soll ich jetzt machen?", zuckte er hilflos mit den Schultern.
Es war Quatsch und ein maximal irrationaler Gedanke, aber er fühlte sich die ganze Zeit, als hätte er Arthur hängen lassen, als wäre er nicht gut genug für ihn da gewesen.
„Nachdenken. Haben die vielleicht irgendwas verraten, irgendwas zu euch gesagt?", lenkte Daniel den Fokus nun darauf, dass sie mit dem arbeiten mussten, was sie hatten. Sie konnten nicht viel machen, außer nachzudenken.
„Nicht wirklich. Überheblich waren die bloß, weil die wussten, dass sie gewonnen haben." Hoffentlich bekam er all ihre widerlichen Bemerkungen irgendwann wieder aus dem Kopf. Er hätte nicht damit gerechnet, dass es solche Menschen wirklich gab. Er dachte immer, sowas dachte man sich nur in irgendwelchen Filmen aus.
„Geh das noch mal Stück für Stück durch. Nach dem Rennen bist du direkt zum Flugplatz aufgebrochen", half Daniel ihm ein wenig, den Abend noch einmal zu rekonstruieren.
Er fragte sich kurz, was das bringen sollte, aber was hatte er schon zu verlieren, wenn er einfach mitmachte?
„Ja. Um nach Monaco zu fliegen. Aber wir wussten ja, dass die da auftauchen würden. Deswegen war ich ja froh, dass Arthur eigentlich noch Termine in Italien hat, weil die jetzt lange Pause haben werden. Ich hätte Arthur nie in Gefahr bringen wollen."
Die Formel 2 hatte jetzt bis Ende November Pause.
Wahrscheinlich würde es kaum auffallen, dass von Arthur jede Spur fehlte. Aber das war alles gerade auch komplett egal. Er konnte selbst auch nicht an Singapur denken. Das Rennen hätte er nach den Plänen dieser Wichser ja gar nicht mehr erleben sollen. Die wollten seinen Tod und wenn Arthur nichts davon mitbekommen hätte, wäre es denen auch gelungen.
„Natürlich nicht. Jeder weiß, was dir dein Bruder bedeutet", wusste auch Daniel um ihr enges, familiäres Verhältnis. Er hatte sie ja schon oft genug gemeinsam erlebt, um das beurteilen zu können.
„Die hatten eine baugleiche Maschine. Die wollten den Privatjet verschwinden lassen, das andere Flugzeug abstürzen lassen, damit jeder denkt, ich wäre dabei ums Leben gekommen. Es gab sogar schon eine entsprechende Pressemitteilung, die rausgehen sollte, sobald das passiert wäre", ging er das auch noch einmal durch.
Er konnte es nicht glauben, dass ihnen jemand sowas antun wollte. Auch Daniel war das Unverständnis darüber deutlich anzusehen. Kein normaler Mensch konnte diesen Irrsinn begreifen.
„Krank...", kommentierte Daniel nur.
„Sowas von...", stimmte er zu und versuchte dann, das Ganze weiter durchzugehen. „Wir wussten ja, dass sie das planen und dass sie mich in der Zwischenzeit woanders hinbringen würden. Deswegen haben die italienischen Behörden ja die Straßensperren errichtet. Man wollte seine Leute so drankriegen, dass es wie deren dummer Fehler aussieht, um zu verhindern, dass jemand ihn warnen kann und er erfährt, dass wir seinen Plan schon lange kennen. Er sollte denken, dass alles reibungslos geht. Aber die hatten zwei Autos. Die wollten ganz sicher gehen. Die haben Arthurs Termine gestrichen, damit wir zusammen da sein werden. Unseren Wagen konnte man stoppen, aber die Wichser, die mit ihm losgefahren sind, konnten sie nicht aufhalten."
Er konnte immer noch nicht fassen, dass es dazu gekommen war. Die ganze Zeit, in der sie überlegt hatten, wie sie diesen Plan am besten vereiteln konnten, war sein einziger Gedanke gewesen, dass sie Arthur unbedingt aus der Sache raushalten mussten. Und was hatte das gebracht? Nun war er verschwunden und wahrscheinlich würden sie nicht zögern, ihm irgendwas anzutun. Er konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, was Arthur in diesem Moment wohl durchmachen musste und es war so schlimm, sich deswegen auch noch schuldig zu fühlen.
„Und jetzt haben sie ein Druckmittel", erkannte auch Daniel, was das Problem an der ganzen Sache war. Denn es war wohl offensichtlich, dass er schnell dazu bereit wäre, alles zu tun, damit sie wenigstens Arthur wieder freiließen. Es ging doch um ihn und nicht um seinen Bruder.
„Ich muss mich stellen. Es geht gar nicht anders. Die werden ihm sonst was antun, nur damit ich komme. Ich hab keine andere Wahl."
Was sollte er sonst machen? Keiner wusste, wohin sie Arthur gebracht hatten und jetzt waren sie obendrein noch gewarnt. Die hatten Geld, die hatten auf der ganzen Welt ihre Verstecke und sonst was. Die hatten so viele Leute. Sie suchten eine verdammte Nadel in einem Haufen von Nadeln. Das würde nicht funktionieren und Arthur blieb vermutlich nicht sehr viel Zeit. Er würde das gar nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können, wenn seinem Bruder etwas passierte.
„Das wirst du lassen. Die machen jetzt eh, was sie wollen. Ob du tust, was sie verlangen oder nicht", hatte Daniel selbstverständlich einen guten Punkt und seinem rationalen Ich wäre das auch klar gewesen, nur wenn es um seine Familie ging war es kaum möglich, eine Sache vollkommen nüchtern betrachten zu können.
„Er ist mein Bruder, Daniel! Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie sie ihn-", platzte es sofort aus ihm heraus, doch Daniel unterbrach ihn sofort.
„Sollst du auch nicht. Aber mach jetzt keinen Scheiß auf eigene Faust. Damit gefährdest du das Leben von euch beiden." Damit hatte Daniel absolut recht und er wusste das. Aber sein Herz brachte ihn dazu einen Haufen Mist zu reden und ihn beinahe wieder die Nerven verlieren zu lassen.
„Ach ja? Und wer kann ihm helfen? Die italienischen Trottel hier können anscheinend ihren Job nicht richtig machen!", fuhr er auf und wurde ungehalten. Nicht absichtlich, nur er wusste nicht wohin mit allem.
Daniel ließ ihn einen kurzen Moment, um sich halbwegs unter Kontrolle zu bringen.
„Aber sie haben doch die Kerle, die dich entführt hatten. Vielleicht reden die ja", versuchte Daniel sich an einem hilfreichen Blickwinkel, nur er selbst glaubte nicht daran, dass das passierte und wenn, dann sicherlich nicht rechtzeitig.
„Das glaubst du doch nicht wirklich. Eher beißen die sich doch die Zunge ab, als ihren großen Boss zu verraten", sah er die ganze Sache absolut nicht positiv.
Der hätte sich doch nie zu solchen Taten hinreißen lassen können, wenn der nicht ganz genau wusste, dass ihm keiner mehr etwas konnte.
„Lass uns das doch alles in Ruhe besprechen. Komm, Arthur ist ein Kämpfer, wie du. Und der ist nicht dumm, der packt das", setzte Daniel alles daran, ihm wieder ein bisschen Mut zu machen und seine Zuversicht zurück zu geben.
„Ja... Ja, du hast ja recht. Es ist nur..." Wie sollte er es ausdrücken?
„Ich versteh das", versicherte Daniel ihm und bewies ihm damit einmal mehr, dass sie keine großen Worte brauchten, um einander bestens zu verstehen.
„Was sollen wir denn Mama sagen und...", setzte er an, als er vom Klingeln seines Handys unterbrochen wurde und als würde Daniel etwas ahnen...
„Weiß Dennis schon Bescheid?"
Er seufzte. Da hatten sie gerade wohl einen ganz ähnlichen Gedanken.
„Ich schätze, er versucht mich gerade schon wieder anzurufen." Dass sein Handy klingelte, war ihm die ganze Zeit nicht einmal entgangen, aber er hatte nicht rangehen, geschweige denn, es aus seiner Tasche holen können.
„Soll ich das übernehmen?", bot Daniel ihm an, aber das wäre wohl ziemlich feige.
„Nein. Nein, ich mach das schon", versicherte er.
Das wäre nicht fair. Arthur und Dennis waren lange genug zusammen, als dass er auch irgendwie zur Familie gehörte. Er konnte ihm das nicht noch länger antun. Der musste sich solche verdammten Sorgen um Arthur machen und leider völlig zurecht.
„Okay. Und dann lass uns endlich hier verschwinden", meinte Daniel noch, worauf er langsam nickte.
„Ja."
Dann zog er das Handy aus der Tasche und wusste nicht, was er Dennis jetzt überhaupt sagen sollte.
DU LIEST GERADE
Senza Regole
Fanfiction⊱ Sie wussten wann es passieren sollte und wie es passieren sollte. Sie waren auf alles vorbereitet, hatten einen Monat Zeit, sich Pläne zu machen und alles bis ins aller kleinste Detail zu planen. Es konnte gar nichts mehr passieren und das durfte...