Kapitel 9 | Truth

30 8 2
                                    

Truth
Kapitel 9


Charles



4. September 2023
Nahe Genua, Italien
3:47 Uhr



„Habt ihr sie?"

Er fuhr regelrecht zusammen.
Nicht, dass er mit dieser Frage von Dennis nicht hätte rechnen können. Er wusste ja, dass er nach draußen gegangen war. Genau wie er selbst, nachdem dieser grauenvolle Anruf endlich beendet war und doch machte es ihm auch zu schaffen, jetzt überhaupt nicht mehr zu wissen, was mit Arthur passierte.
Einerseits war es unerträglich, es mit anhören zu müssen, andererseits war es noch tausendmal schlimmer, gar nichts mehr zu hören, denn jetzt spielte sein Kopf ihm Bilder vor, die er noch sehr viel weniger gebrauchen konnte.
Dennis sah irgendwie aus, wie er selbst sich fühlte. Er konnte ihm ansehen, dass er selbst seinen Gedanken nachgehangen hatte und er wünschte, er könnte ihm endlich etwas Gutes sagen. Aber das konnte er nicht. Es gab nichts Positives, was er ihm mitteilen könnte.
„Es war nicht möglich den Anruf zurück zu verfolgen", musste er leider zugeben. Der Moment, als er das erfahren hatte, war jener, indem er selbst es nicht mehr ausgehalten hatte, drin zu bleiben.

Was machen sie hier eigentlich?
Zogen sich in das Ferienhaus eines Freundes der Familie zurück und es spielten sich Szenen ab, die man nur aus schrecklichen Kriminalfilmen und Serien kannte. Das kam ihm alles so unwirklich vor. Er wollte einfach aufwachen und feststellen, dass nichts davon passiert war.
„Habt ihr einen Plan B?", wollte Dennis wissen. Nach außen mochte er ruhig wirken, aber da waren sie sich nicht unähnlich. Dennis neigte auch dazu, Dinge, die ihn emotional aufwühlten, runterzuschlucken. Sicher war das nicht immer die beste Lösung, nur brauchten sie ihre angekratzten Nerven wohl noch.
Wieder wünschte er, er könnte etwas sagen, was Hoffnung machte. Richtige Hoffnung und keine falsche.
„Nein."
Was sollte er sonst antworten? Alles andere wäre eine Lüge. Sie hatten keine weiteren Pläne. Dass das hier gut ging, war die einzige Chance gewesen. Alles was jetzt passierte, war nichts, worauf sie sich hatten einstellen können.
Obwohl Dennis' Miene unbewegt blieb, konnte er sehen, dass es ihn mitten ins Herz traf.

Einen Moment blieb es vollkommen still zwischen ihnen.
Es kann überhaupt nichts schiefgehen. Das Arthur mir am Dienstag gesagt", teilte Dennis ihm nach einer Weile mit.
Er fühlte sich selbst schrecklich schuldig daran, dass es nun eben doch schiefgegangen war.
„Wir hätten nicht gedacht, dass das passiert", versuchte er zu erklären, doch Dennis schüttelte sofort den Kopf, schien da ganz anderer Meinung zu sein.
„Doch, Charles. Du hast die ganze Zeit befürchtet, dass etwas schiefgeht. Du hattest die ganze Zeit Angst, dass sie einen Weg finden, an ihn ranzukommen und es ist ihnen gelungen", erkannte Dennis die Wahrheit ziemlich gut. Da lag zwar nicht direkt ein Vorwurf an ihn drin und doch hatte er das starke Bedürfnis, sich erklären zu müssen.
„Ich kann mich nur stellen. Was soll ich sonst tun? Ich kann das nicht zulassen", meinte er also. Es ging ja nicht anders. Sie würden Arthur niemals einfach so gehen lassen und so lange er selbst sich nicht im Austausch anbot, so lange würde Arthurs Martyrium auch weitergehen.
„Aber das wirst du müssen", kam es in ziemlich harschem Ton zurück. Ungewöhnlich für Dennis, der sonst immer ruhig und entspannt war.

Er schüttelte sofort den Kopf, weil er sich denken konnte, worauf das hinauslief.
„Nein. Ich weiß, was ihr alle sagen wollt, aber wir haben keine Zeit. Wir können ihn da nicht drin lassen. Ich muss zumindest versuchen, ihn zu einem Tausch zu bewegen", beteuerte er also, dass es keine andere Möglichkeit gab, auch wenn ihm jeder davon abraten wollte.
„Das wirst du lassen!", wurde Dennis sogar noch ungehaltener. Nicht, weil der andere sauer auf ihn war, sondern weil ihn diese Situation selbstverständlich auch fertigmachte.
„Ich hab doch keine andere Wahl", begründete er, worauf Dennis entschieden den Kopf schüttelte.
„Man hat immer eine Wahl. Und wenn du das tust, dann ist alles, was Arthur da gerade ertragen muss, vollkommen um sonst", stieß Dennis ihn auf eine Sache, an die er selbst noch gar nicht gedacht hatte und er sollte vermutlich wirklich mal darüber nachdenken.
„Dennis, es ist meine Schuld. Es ist meine Verantwortung. Ich kann Arthur dafür nicht leiden lassen", versuchte er noch einmal zu erklären, warum er aus seiner Sicht nichts anderes machen konnte, als dem Ganzen ein Ende zu setzen und ihrem Feind zu geben, was er wollte.

Noch einmal schüttelte Dennis den Kopf.
Er beobachtete, wie der Freund seines Bruders auf und ab lief und ihm einen Blick zuwarf, den er von ihm nicht kannte.
„Und das ist der Fehler in deiner Denkweise. Du gibst dir die Schuld und jetzt willst du an seiner Stelle leiden, damit du das besser erträgst, aber so funktioniert das nicht", erklärte Dennis ihm, wie er das alles sah. „Ich hab das eben gehört."
Er seufzte innerlich. Dass Dennis sowas mit anhören musste, hatte er nicht gewollt, aber es war für sie alle grausam.
„Das ist unerträglich, aber wenn du jetzt wie ein Lamm einfach brav machst, was der von dir will, dann hätte Arthur dich auch anflehen können zu kommen, hoffend, es sich selbst dadurch leichter zu machen. Er hat sich entschieden, den Mund zu halten. Also nimm ihm die Entscheidung nicht wieder weg. Dir zu helfen ist alles, was er hat, um das durch zu stehen und du weißt überhaupt nicht, ob er nicht so oder so leiden müsste."
Das ergab vollkommen Sinn. Das konnte er nicht leugnen.
Aber es tat so fürchterlich weh zu wissen, was Arthur gerade passierte, der doch für das alles auch nicht konnte.
Wenn Arthur diese Informationen nicht zufällig bekommen hätte, dann wäre er selbst längst in den Händen ihres Gegners und dann...

„Aber wir müssen ihn da rausholen, bevor sie ihn umbringen", platzte es aus ihm heraus, bevor ihm noch mehr von diesen unerträglichen Bildern durch den Kopf schossen.
„Natürlich. Mit Sinn und Verstand und nicht mit blinden Aktionen. Du hilfst Arthur mehr, wenn du hier bist, als wenn du dahin rennst", beharrte Dennis und hatte selbstverständlich absolut recht. Es war ihm noch nie so schwer gewesen, etwas zu akzeptieren, wie in diesem Moment, nur er half Arthur wirklich nicht, wenn er sie beide in Schwierigkeiten brachte und diesem Wichser erlaubte, seine Psychospielchen mit ihnen zu spielen.
„Wenn wir nur wüssten, wo die sich verkrochen haben", seufzte er verzweifelt auf. Dann könnte man vielleicht einen besseren Plan fassen, um ihn da wieder rauszuholen. Aber so lange sie keine Anhaltspunkte hatten, waren sie komplett am Arsch.
„Was ist mit Estebans Einfall? Glaubst du, das könnte helfen?", hakte Dennis nach, dessen Stimme plötzlich wieder schon fast ruhig klang. Irre, wie schnell sich das bei Dennis ändern konnte, aber er regte sich nie länger über etwas auf, als es nötig war.
„Möglicherweise dauert das zu lange, aber das ist besser als nichts. Ich überlege die ganze Zeit, ob mir nicht irgendwas entgangen ist", teilte er Dennis also mit und setzte sich einen Moment mit ihm auf die Mauer der Veranda.

Sie nahmen sich beide den Augenblick, ihren eigenen Gedanken nachzugehen.
Er wüsste schon gerne, was gerade alles in Dennis vor sich ging. Einen Teil konnte er sich denken, den Rest nur erahnen.
Er müsste diesen Mistkerl doch besser kennen, der ihnen das antat. Seine ganze Kindheit hatte sich um dessen Namen gedreht. Er hatte das immer vor Augen gehabt und er hätte niemals gedacht, dass ausgerechnet der Sohn einer solchen Legende dazu fähig war, der schlimmste Albtraum seiner Familie zu sein.
Und als wäre es ein Stichwort, als hätten sie gerade in dieselbe Richtung gedacht, meine Dennis: „Es geht doch immer um Familie. Gerade bei dem. Vielleicht gibt es in seiner Lebensgeschichte einen Hinweis."
La Famiglia'...
Sicher, der Kerl redete von nichts anderem...

„Ja, natürlich! Fuck, wieso bin ich da nicht gleich draufgekommen?"

Senza RegoleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt