1. Zwei Wölfe

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(POV: Nick)

"In jedem von uns lebt ein weißer und ein schwarzer Wolf. Der weiße Wolf verkörpert alles, was gut ist, der Schwarze, alles, was schlecht in uns ist. Der weiße Wolf lebt von Gerechtigkeit und Frieden, der Schwarze von Wut, Angst und Hass", las sie laut aus einem ihrer Bücher vor.

Während Nick aus dem Fenster blickte und den malerischen Sonnenaufgang vor seinen Augen betrachtete.

Der Ausblick auf die Wälder und die Felder, welche an ihm vorbeirauschten, zog bei jeder Zugfahrt seine komplette Aufmerksamkeit auf sich. Selbst wenn er diese Landschaft jeden Tag sah und sie sich kein einziges Mal veränderte.

"Diese Wölfe stehen im ständigen Kampf miteinander. Doch letzten Endes, kann nur ein Wolf gewinnen, der den du fütterst", las sie den letzten Satz und atmete tief aus.

"Aber eine Sache hast du vergessen", sprach Nick, nachdem sie das Buch vor seinen Augen schloss. Völlig überrascht, dass er ihr die ganze Zeit über zugehört hatte, wandte Charlotte ihren Blick zu ihm.

"Ich dachte du interessiert dich nicht für meinen Hokus Pokus?" Sie zog eine Augenbraue nach oben.

Das stimmte auch teilweise, da Nick daran glaubte, dass Dinge wie Magie oder Geister nicht existieren. In seinen Augen gab es für jedes "übernatürliche Phänomen" eine wissenschaftliche Erklärung. Menschen haben den Drang, Dinge, die sich nicht erklären können, mit Fantasie zu füllen.

Denn es beängstigt sie, wenn es keinen bestimmten Grund für etwas gibt. Seien es Erlebnisse, beängstigende Sichtungen oder Eigenschaften, die ihnen nicht geheuer sind.

Charlotte war einer dieser Leute, die an das Paranormale glaubten. Bereits seit der Grundschule, glaubte sie an die Existenz von Wesen, welche höher sind als die Menschen.

Sie konnte Stunden damit verbringen eine übernatürliche Erklärung für ein Ereignis zu suchen. Während Nick versuchte, es mit einem logischen und plausiblen Grund zu erklären. Manchmal fragten die beiden sich, wie ihre Freundschaft über so viele Jahre halten konnte.

Jeden Morgen fuhren sie gemeinsam mit der Bahn zu Schule. Während Nick aus dem Fenster blickte und dabei meist Musik hörte, las sie lieber ein Fantasy- oder Poesiebuch. Die meiste Zeit bemerkte Charlotte gar nicht, dass sie ihre Bücher nicht nur in Gedanken, sondern flüsternd vorlas.

Zwischendurch klemmte sie sich ihre dunkelbraunen Haare hinter die Ohren, falls diese sie störten. Eigentlich ließ Nick ihre Worte jeden Morgen an sich vorbeirauschen, als würde er ein Lied im Radio hören, doch dieser Satz, hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.

"Ein Wolf, der nicht gefüttert wird, der wird weiterhin hungrig bleiben. Ein hungriges Tier, wird sich niemals ohne Weiteres geschlagen geben. Er wird den anderen Wolf weiterhin angreifen, denn auch er, will lediglich überleben", warf er in den Raum.

Charlotte seufzte: „Das ist bloß eine Metapher, Nick", sie rollte mit ihren Augen und steckte das Buch zurück in ihre dunkelblaue Umhängetasche, in der sie nebenbei auch ihre Schulbücher aufbewahrte.

Man bekam das Gefühl, ihre Tasche wurde nur noch von einer Handvoll Fäden zusammengehalten werden, so viele Bücher trug sie mit sich. Das Gewicht schien Charlotte aber nie zu stören.

Gemeinsam stiegen sie an der nächsten Station aus. Bis zur Schule, mussten sie allerdings noch ein kleines Stück laufen. Wenn niemand in der Familie ein Auto besaß und die High-School sich nicht genügend Schulbusse leisten konnte, blieb ihnen nichts anderes übrig als auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen zu sein.

Während sie einen ländlichen Pfad entlangliefen und Nick aus purer Langeweile einen Kieselstein vor sich her trat, fing Charlotte an zu erzählen:

"Weißt du, eines Tages, da möchte ich nach New York gehen. Nicht mehr gefangen in so einer kleinen Stadt sein. An jeder Ecke neue Möglichkeiten entdecken. Keinen Tag erleben, der wie der andere ist".

Crescence - Boy meets LycantropyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt