Crescence - Boy meets Lycantropy

35. Auswege

(PoV: Nick)

Nick wusste nicht, wie viele Minuten vergangen waren, seitdem Connor seinen Onkel erschossen hatte. Blut strömte aus den Einschusslöchern der Leiche und färbte das Gras unter ihr rot. Connor hielt noch immer den Revolver in seiner Hand. Mit einem leerem Blick starrte er auf den leblosen Körper von Nathaniel. Der Junge gab keinen Ton von sich. Kein Winseln. Kein Geschrei. Keine Wut. Nur noch pure Stille. Als wenn die Dämonen, die sich jahrelang in seinem Herzen angestaut haben, zum ersten Mal Ruhe geben würden.

Nick versuchte Connors Schulter anzutippen doch darauf reagierte er nicht. Er sagte seinen Namen. Keine Reaktion. Der Junge war in eine andere Welt abgedriftet. Sie konnten auf keinen Fall hierbleiben. Der Rest der Familie würde sich bald auf die Suche nach ihrem Anführer machen. Sie werden Connor mit der Waffe in der Hand sehen. Er musste so schnell wie möglich etwas unternehmen.

"Connor. Du musst aufstehen. Bitte", Nick schüttelte an der Schulter des Braunhaarigen. Zuerst noch sanft, dann wurde er grober. Er konnte nicht zulassen, dass der Junge, für den er gerade seine wahren Gefühle entdeckt hat, im Knast landet. Früher dachte Nick, dass ein solches Verbrechen wie Mord niemals zu entschuldigen sei. Doch nun war er sich nicht mehr sicher.

Er durfte nicht ins Gefängnis. Nicht wegen so einem Arschloch wie Nathaniel. Vielleicht war es nicht richtig, Rache zu üben. Jemanden für all den Schmerz, den man erlitt, bezahlen zu lassen. Aber Nathaniel verdiente es. Er hat Connors Onkel brutal ermordet und das aus reiner Habgier. Er wusste, dass er aus dieser Situation nicht mehr rauskommt und war sogar zu Feige, sich selbst umzubringen. Nein, er musste seinen Neffen dazu provozieren und dadurch seine Zukunft ruinieren. Dieses Monster hat keine einzige Träne verdient.

Nur eines stand für den jungen Werwolf fest: Er würde es auf keinen Fall zulassen, Connor dadurch zu verlieren.

"Connor. Bitte", flehte er den Braunhaarigen an, doch der Teenager saß noch immer auf dem Boden. Erstarrt wie eine Statue. Nick schnaufte. Seine Augen fingen an zu Tränen bei dem Gedanken, dass nun alles zwischen ihnen vorbei war.

"Wir wollten doch zusammen abhauen, schon vergessen?", erinnerte Nick ihn an seine Worte. Dies schien endlich Connors Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Er drehte sich zu Nick um und blickte ihm direkt in die Augen. Das Innere und die Ränder unter seinen Augen waren leicht rötlich gefärbt. Wahrscheinlich von all den Tränen, die er vergossen hat. Dabei hörten nicht einmal Nicks Wolfsohren ihn weinen. Er saß die ganze Zeit vor der Leiche seines Onkels und vergoss stille Tränen der Verzweiflung, der Wut und vielleicht auch ein wenig der Trauer, über all den Schmerz, den dieser Mann ihm zugefügt hat.

"Willst du immer noch mit mir gehen?", fragte er. Seine Stimme war kaum hörbar. Nick strich über die Wange des Jungen und nickte zustimmend. Da spürte der Wolf plötzlich ein Stechen in seiner Brust. Ein Stechen so schmerzhaft, dass sein gesamter Körper zusammen zuckte. Das Blut in seinen Adern brannte. Sein Kiefer schmerzte. Ihm war sofort klar, was nun passierte. Er hielt seine Verwandlung schon viel zu lange zurück und jetzt hat sein Körper keine andere Wahl mehr. Die Mondstrahlen waren einfach zu stark.

Der Teenager kniete sich hin. Innerhalb weniger Sekunden nahm sein menschlicher Körper die Form des schwarzen Wolfes an. Mit leuchtend gelben Augen, die sich aufgrund des blauen Mondes ebenfalls nach einiger Zeit in einem strahlend hellen Blau färbten. Er dachte, jetzt wäre alles vorbei. Doch da irrte sich der junge Werwolf. Anstatt Kontrollverlust und Tötungsdrang, empfand er lediglich eine Stärke, die mit keinem seiner bisherigen Verwandlungen vergleichbar war. Er hatte das Gefühl, er könnte ganze Berge versetzen. Mit seinen Pfoten ganze Tunnel graben. Sein Heulen könnte die ganze Welt erreichen. Doch anstatt all diese Dinge zu tun, unterdrückte er diese riesige Masse an Energie und setzte sich aufrecht vor den Jungen hin.