20. - Umarmung

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Seine Mutter war schrecklich gut drauf. Es war absolut nervig und verursachte bei Nicky scheinbar ausgleichend schlechte Laune.
Ständig sang sie krumm und schief eigentlich ganz okaye Lieder kaputt. Seit dem Date war sie nahezu euphorisch und auch, wenn Nicky wusste, dass sie das nicht böse meinte, fände er es schön, wenn sie ihm nicht vorgeben wollen würde, wie er zu fühlen hatte. Denn je mehr seine Mutter eskalierte, desto genervter wurde er selbst. Und statt sich noch über das Date zu freuen, entwickelte es sich ohne sein Zutun zu einem roten Tuch, an dass er lieber gar nicht mehr denken wollte.

Gerade saß er, drei Tage später, genervt am Küchentisch und lôffelte eine Kaltschale, als sein Handy wieder vibrierte.

Eine unbekannte Nummer hatte ihm geschrieben: ich hoffe es geht dir gut...

Theoretisch würde er auch die Nummer jetzt blockieren. Aber zum ersten Mal hatte er den Drang zu antworten.

Nicky:
Es geht so. Wer ist da?

Unbekannte Nummer:
Ich bin Julian. Du erinnerst dich nicht an mich...

Nicky;
Ich weiß...

Hartnäckiger ehemaliger bester Freund Julian:
Du weißt??!!! 🥺🥺🥺

Nicky:
Ja... Also, dass ich mich nicht erinnere, aber Christian hat mir von dir erzählt
.

Hartnäckiger ehemaliger bester Freund Julian:
Achsooo. Ich dachte schon... Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich gerade freue, dass du geantwortet hast.

Nicky:
Na, dann ist heute wohl dein Glückstag. Lass uns treffen. Jetzt.

Nicky wusste nicht, ob er früher spontan gewesen war. Vermutlich nicht sonderlich. Vermutlich würde er in 100 Leben nicht spontan sein, deshalb dieses Angebot an diesen Julian absolut untypisch für ihn war.
Aber ganz ehrlich: er hatte das dringende Bedürfnis, das Haus zu verlassen und seiner Mutter und ihrer Laune zu entkommen. Natürlich, sie freute sich. Das konnte er auch nachvollziehen. Aber... Es ließ ihn unglaublich schlecht fühlen. Als sei das Ziel, dass er genau der wird, der er vor dem Unfall gewesen war. Als stelle sie ihm, einem Apfel, eine Birne vor die Nase und wolle, dass er genau so werde. Es war eine Anforderung, die er nicht erfüllen konnte und ein Date mit Christian änderte absolut gar nichts daran.

Hartnäckiger ehemaliger bester Freund Julian:
Bin in zehn Minuten im Park bei dir um die Ecke. Danke!

Der hatte sofort geantwortet. Er wollte Nicky also wirklich unbedingt treffen und er schlug eine neutralen Boden vor. Das gefiel Nicky sehr gut.

Nicky:
Perfekt. Bis gleich.

Hartnäckiger ehemaliger bester Freund Julian:
Bis gleich.

"Mit wem schreibst du denn da? Muss Christian nicht unterrichten?", fragte seine Mutter mit einem anzüglichen und gleichzeitig tadelndem Unterton.

"Ja? Keine Ahnung. Ich kenne ihn ja nicht so gut. Ich schreibe mit wem anderes. Ziehe mich Mal eben um und gehe dann ne Runde mit Berta.", sprach er und versuchte seinen Ton auf einem neutralen Level zu halten. Seit dem Unfall spürte er manchmal unglaublich viel Wut im Bauch und hoffte immer, dass diese nicht zu weit an die Oberflächen kam.

"Eben wolltest du doch nicht gehen?", fragte seine Mutter argwöhnisch.
"Ich treffe mich noch mit wem. Kann später werden.", sprach Nicky, stand auf und ging nach oben. Er wusste, dass das gegenüber seiner Mutter gemein war. Aber er fand ihr Verhalten auch echt nicht okay und er wollte einfach nicht die vernünftige Person in dieser Sache sein.

Sobald er wieder herunter kam, versperrte seine Mutter ihm den Weg.

"Mit wem?!"
"Das geht dich nichts an, Mum."
"Nicolas, also der Christian, der ist für dich doch der Richtige und da brauchst du auch nicht wei-"
"Lass. Es.", zischte Nicky sauer, rempelte seine Mutter halb um und schnappte sich mehr im Vorbeigehen Bertas Leine und Halsband und die folgte ihm sofort nach draußen.

"Nic-"
"Mama, ich will es nicht hören. Lass mich einfach. Das hier. Das bin ich. Ob es euch passt oder nicht. Lebt damit! Ich bin dann weg.", maulte er noch und leinte Berta erst auf dem Bürgersteig an. Im Grunde brauchte sie keine Leine. Sie blieb immer bei ihm und interessierte sich weder für Menschen, noch andere Hunde genug, um abzuhauen. Knochen, Leckerlis, Erdklumpen und Stöcke könnten da schon eher zum Problem werden.
Aber nun konnten sie los.

-

Nicky setzte sich ein wenig Abseits auf eine Bank. Berta lag schräg vor ihm und kaute auf einem Ast herum. Wenn sie fertig wäre, würden von ihm nur noch Zahnstocher übrig bleiben.

Noch immer ärgerte er sich maßlos über seine Mutter. Vielleicht sollte er wieder ausziehen. Möglichst schnell. Nur wohin? Allein? Er glaubte nicht, dass er wirklich dazu in der Lage wäre, sich allein zu versorgen.
Er würde mit Ben eine WG machen. Aber der hatte ja Freya und den Kleinen...

Er steckte noch tief in seinen Gedanken fest, als sich jemand vor ihm räusperte. Der Mann von dem Foto, welches Christian ihm gezeigt hatte.

"Hi.", grüßte er verunsichert.
"Hi du.", lächelte der große und muskulöse Mann und setzte sich neben ihn.

"Äh... Tja... Also...", machte Nicky. Er hatte keine Ahnung, wie man nun ein Gespräch beginnen sollte. Was hatte der wohl alles über ihn gewusst? Was hatte er über ihn gedacht? Was hatte ihn an ihm genervt? So viele Fragen, aber das hier war wohl kaum der Moment, wo er sie alle auf einmal stellen sollte.

"Es ist schön, dich zu sehen und ich freue- ach scheiße, man. Ich kann das nicht. Fuck, ich hab dich so vermisst.", platzte es plötzlich aus Julian heraus und  im nächsten Moment fand sich Nicky in einer Umarmung wieder.

Und auch wenn er nicht die geringste Erinnerung daran hatte, wie ihre Freundschaft gewesen war oder wie sie zusammen gewesen waren und überhaupt: Diese Umarmung war schön. Sie war warm und kuschelig und Nicky fühlte sich auf Anhieb geborgen. Er wusste nicht, was es war. Er erinnerte sich an nichts. Nicht an den Geruch, die Stimme oder den Körper oder sonst was. Aber das musste er in diesem Moment vielleicht auch gar nicht. 

Vielleicht lag es nur an all dem Stress oder dem Streit eben mit seiner Mutter oder den vielen negativen Gedanken, die ihn immer Mal wieder überfielen. Vielleicht auch nicht. Er wusste es nicht.
Es gab vielleicht einfach Menschen und deren Umarmungen, von denen man vorher nicht wusste, wie sehr man sie brauchte, bis man sie bekam.
Und deshalb antwortete er vollkommen aufrichtig und über diesen Umstand selbst sehr überrascht: "Ich dich auch."

Remember me - wird fortgesetzt auf StorybanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt