2. - Der Mann

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Tja... Da sprach seine Mutter etwas sehr Wesentliches an. Für sie alle hatte Nicky einfach vier Jahre vergessen. Für Nicky selbst war er morgens aufgewacht und 22 Jahre alt gewesen. Statt 18. Er war in einem Krankenhaus aufgewacht und seine Hand war gehalten worden von einem fremden erwachsenen Mann. Dass er schockiert war, war absolut untertrieben. Er hatte geschrieen wie am Spieß, als dieser Mann ihn hatte küssen wollen. Seither ließ der ihn nicht in Ruhe. Behauptete, sie beide seien seit vier Jahren zusammen, wohnten zusammen und all so Krams. Nicky hatte gedacht, es mit einem äußerst kranken Menschen zu tun zu haben. Er hatte wie verrückt aufs rote Knöpfchen gedrückt, damit man den armen Kerl zurück auf seine Station bringen möge und bitte nochmal kontrolliere, dass die Türen auch wirklich geschlossen wären.

Der Mann war völlig verwirrt und aufgelöst gewesen. Er hatte Nicky leid getan, aber das half ja nun auch nichts.

Und dann der nächste Schock, als er in den Spiegel gesehen hatte. Er war... Er hatte einen Bart! Und... Er sah einfach älter aus. Man hatte ihm irgendwann haufenweise Kalender vorgelegt und hatte seine Eltern gerufen. Alle waren einfach älter als gefühlt gestern noch. Nicky hatte einen Schock erlitten, irgendwelche Medikamente bekommen und war beim nächsten Aufwachen heilfroh gewesen, nicht nochmal ein paar Jährchen übersprungen zu haben.

Er hatte sich in einem Leben wiedergefunden, welches offensichtlich ein anderer gelebt hatte. Ein schwuler Student. Mit einem Faible für schwarze Kleidung und komische Frisuren. Er studierte Maschinenbau. Gestern hatte er sich noch Sorgen gemacht, ob er sein Abi schaffen würde und nun sollte er angeblich schon drei Jahre studieren. Motiviert sogar! Angeblich lebte er mit diesem Christian in dessen Wohnung. Angeblich wären sie sogar verliebt! Christian war 28. Hätte auch studiert und war Lehrer.
Nicky war nicht single! Er hatte einen festen Freund! Ein männlicher Freund! Ein erwachsener Mann! Und der war Lehrer!

Nicky hatte getan, was wohl alle getan hätten: er war aus dem Krankenhaus heraus direkt zu seinen Eltern gegangen. Nach Hause. In sein Zimmer. Da war er schließlich immer schon gewesen. Er hatte seine Sachen, die er angeblich alle in den vier Jahren angeschafft hatte, gar nicht haben wollen. Es waren ja nicht seine. Er verband damit absolut gar nichts. Der Mann war unendlich traurig und er tat Nicky leid, aber Mal ehrlich: da konnte er doch nun auch nichts zu.

Er wusste, dass er sich schon auch gern die Jungs beim Sport in der Umkleide angesehen hatte. Also dass er eine Beziehung zu einem Kerl hatte, war für ihn jetzt nicht der weltbewegende Schock. Aber dass sein Freund ein erwachsener Mann war mit Job, Eigentumswohnung und Auto... Das war schockierend. Der sah zwar ganz gut aus, ja. Nicky hätte sich vielleicht Mal nach dem umgedreht... Aber sonst?

Er tauchte auf. Immer und überall. Er hatte Nicky mit Dingen aus den vier Jahren und Fotos zugeballert. Vielen vielen Fotos. Fotos von Feiern, Fotos von Urlauben, Fotos von Sofanachmittagen. Alles. Nicky hatte sehen können, wie er von sich zu dem 22 Jahre alten Nicky geworden war. Aber es war, als gehöre all das zu jemand anderem. Als sei all das nicht ihm passiert. Es weckte keine Erinnerungen. Es ließ ihn nicht plötzlich in Tränen ausbrechen, weil er einen Erinnerungsschnipsel erhaschte. Nichts. Es berührte ihn nicht. Es war, als würde man durch das Fotoalbum eines Bekannten blättern.

Wieder und wieder war der Mann in Tränen ausgebrochen. Nicky verstand nicht, was der noch von ihm wollte. Nicky hatte ganz formal Schluss gemacht. Hatte gesagt, dass sie, anhand der Bilder wohl eine glückliche Zeit gehabt hätten, aber dass er sich eben nicht erinnere und dass er daher die Beziehung beenden würde. Fertig. Hatte er doch richtig gemacht. Er hatte sogar lieb gesagt, dass der Mann bestimmt einen anderen Mann finden würde.

Dummerweise schien der keinen anderen Mann zu wollen. Ständig tauchte er auf. Hatte Nicky geschrieben, bis er die Nummer blockiert hatte, tauchte ständig im Park auf oder vor der Haustür. Ständig war der überall. Nicky hatte Angst bekommen. Der war doch eindeutig besessen von ihm. Was war das bitte für ein Lehrer? Nun, aktuell jedenfalls ein beurlaubter Lehrer. Aber das half Nicky auch nichts. So hatte der ja noch mehr Zeit.

Schließlich hatte er ihm die ganzen Fotos zurückgegeben und auch die Sachen, mit denen er ja eh nichts anfangen konnte. Damit der Typ merkte, dass es ihm ernst war. Hatte auch nichts gebracht.

Sein Leben bestand aus Kopfschmerzen, Schwindel und einem Mann, der ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit auflauerte. Manchmal wünschte er sich, er wäre einfach nicht mehr aufgewacht... Oder wenn, dann bitte viel viel früher...

Remember me - wird fortgesetzt auf StorybanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt