19. - Date (Teil 4)

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Christian bewohnte ein kleines Haus im Speckgürtel Londons. Es war hübsch hier. Klassische Einfamilienhausbebauung eben. Nichts fiel aus der Reihe. Alles sauber, ordentlich und gepflegt. Kleine Gärten hinter hohen Hecken. In diese Straße hier kam niemand, der hier niemanden kannte. Eine Sackgasse.

Christian schloss die Tür auf und trat ein. Nicky folgte ihm. Er hatte auch hier gewohnt. Kamen Erinnerungen zurück? Er musste schon oft hier im Flur gestanden haben. Erinnerte er sich? Löste es etwas aus? Machte der Geruch etwas mit ihm? Hatte er die Wandfarbe nicht schonmal gesehen? Krampfhaft prokelte er in seinem Gedanken und Erinnerungen herum.
Nein. Nichts. Es war einfach ein Flur für ihn.

Es war seltsam. Für einen Moment eben war es so gewesen, als würde er eben mit seinem Date zu diesem nach Hause gehen. Aber es war mehr als das. Er kam dorthin zurück, wo er vor ein paar Monaten noch selbst gewohnt hatte. Fotos an der Wand zeugten davon.

Er mit Christian in die Kamera grinsend. Er an einem atemberaubend schönen Strand. Sie beide auf Kamelen reitend. Sie mit anderen Typen fröhlich lachend  bei einem Straßenfest. Nachdenklich betrachtete er die Bilder, die alle ein wenig schief auf der Wand hingen.

"Entschuldige. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass es für dich hier komisch sein könnte...", murmelte Christian, der dicht neben ihm stand und ihn offenbar sehr genau beobachtet hatte.

"Das ist schon in Ordnung. Ich versuche nur mich an irgendwas zu erinnern. Es ist alles so absurd...", stammelte Nicky. Auch er hatte vorher ja schließlich einfach nicht darüber nachgedacht. Und jetzt wollte er sich einfach einreden, etwas zu erkennen. Aber das brachte das? Die Realität war eindeutig: nichts hier löste eine konkrete Erinnerung aus.

"Komm.", meinte Christian dann und führte Nicky in ein offenes Wohnzimmer.

"Setz dich ruhig. Ich hole uns was zu Trinken.", entschied Christian und ging direkt durch in die Küche.

Er stockte, als er zurück kam und Nicky auf dem Sofa sitzen sah.
"Genau da hast du immer gesessen.", murmelte er und Nicky musste zwangsweise darüber nachdenken, wie schwer das hier gerade für Christian sein musste. Immerhin hatte der nicht alles vergessen. Dessen Augen schimmerten jetzt verdächtig, weil er sich hier willkürlich aufs Sofa gesetzt hatte. Wie oft hatte er schon hier gesessen? Was hatten sie hier Wichtiges besprochen? Welcher Film lief gerade wohl vor Christians innerem Auge ab? Von ihm. Auf genau diesem Platz auf genau diesem Sofa.

"Ich kann mich.. umsetzen...", bot Nicky peinlich berührt an.
"Ach was. Nein. Schon gut... es ist ja dein Platz.. Hier.", Fing sich Christian einigermaßen wieder und reichte Nicky einen Longdrink.

Einen Moment schwiegen sie. Es war seltsam hier. Es sollte vertraut sein und war es nicht. Was sollte man jetzt reden? Vielleicht war das doch alles eine doofe Idee. Vielleicht sollte Nicky doch seine Sachen packen und abhauen. Woanders neu anfangen, wo er wirklich neu wäre. Das hier war doch alles ein emotionales Mienenfeld. Vielleicht sagte er als nächstes etwas für ihn völlig banales aber für Christian hoch dramatisches?

"Und?", fragte Christian und hielt ihm einen Controller hin.
"Ich mache dich fertig.", lächelte Nicky. Das war einfach. Das war Mario Kart. Dabei konnte man nichts falsch. Jeder gegen jeden. Alle kriegen eins auf die Mütze und fertig.

So waren sie einige Zeit später bereits in einem Match auf der Regenbogenstrecke und fielen laufend von der Fahrbahn und Christian hatte Nicky eine Doofnuss genannt, weil der ihm einen roten Panzer hinterher geschickt hatte und Nicky hatte Christian Hodenkobold genannt, weil der ihm einen Beschleunigungspilz geklaut hatte. Sie lachten beide über die dämlichen Beleidigungen. Aber am Schönsten war nicht das Geschehen auf dem Bildschirm und wie sie sich gegenseitig von der Strecke schubsten.

Am Schönsten war es, dass sie Zeit miteinander verbrachten. Ohne über die Vergangenheit zu sprechen oder die Zukunft. Sie genossen die Gegenwart. Und zwar miteinander.

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Christian fuhr Nicky irgendwann nach Hause, gab ihm einen Kuss auf die Stirn und bedankte sich nochmal für das Date und wünschte ihm eine gute Nacht, bevor er davon fuhr. Okay. Irgendwie hätte sich Nicky auch Sex vorstellen können, bemerkte er überrascht, als er in den Flur trat.

"Wie war's?!", Fragte seine Mutter mit einer riesigen dampfenden Tasse in der Hand, sobald er die Tür geöffnet hatte. Selbst Berta stand rutewedelnd mit einem Kauknochen daneben.

"Äh.... Gut?"
"Habt ihr euch geküsst?"
"Äh... Nein?"
"Wie kann es dann gut gewesen sein?", fragte seine Mutter entgeistert.
"Äh..?"
"Ich hatte gehofft, du nimmst ihn noch mit rein...", Murmelte sie enttäuscht.
"Damit du uns beide ausfragen kannst?"
"Nein. Dann hätte ich mich ganz leise in der Küche versteckt, um nicht zu stören."
"Ach, verdammt. Hätte ich das vorher gewusst...", schmunzelte Nicky und trat sich die Sneaker von den Füßen.

"Wie war's denn jetzt?"
"Schön."
"Wow. Wie du so erzählst: Man hat richtig das Gefühl dabei gewesen zu sein."
"Mama: Ich bin froh, dass du nicht dabei warst. Bitte. Ich denke wir werden uns nochmal treffen. Wer weiß schon, was passiert?"
"Aber... Erinnerungen -"
"Ich erinnere nichts. Ich habe mir ein bisschen angehört, was ich wohl so getrieben habe in diesen... letzten.. Jahren. Aber es tut sich nichts. Es ist, als habe das Leben jemand anderes erlebt. Und egal, wie oft du mich das noch fragst: die Ärzte haben gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich nochmal erinnern werde, verdammt gering ist. Ich gehe davon aus, dass ich mich niemals mehr erinnern werde.", brummte Nicky, küsste seine Mutter auf die Wange, streichelte Berta über den Kopf und ging mit einem gemurmelten "Gute Nacht" ins Bett.

In einem Film würde er in der Nacht von Christian träumen und wie aus ihnen das perfekte Paar werden würde. Aber er war nicht der Protagonist eines vorhersehbaren Films. Er träumte nichts, wachte dafür zig mal auf und konnte dann nicht wieder einschlafen. Scheiß Nacht.

Remember me - wird fortgesetzt auf StorybanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt