Kapitel 35: Das machen Freundinnen so

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Rückblickend hatten sich die fünf Tage, die Ava bei uns verbrachte wie ein Fiebertraum angefühlt. Allein schon morgens mit ihr am Frühstückstisch zu sitzen, war vollkommen surreal. Hogwarts und mein Zuhause waren immer diese zwei separaten Orte gewesen und Ava brachte auf einmal alles durcheinander. Nach dem Frühstück verbrachten wir den Großteil der Zeit damit, Musik zu hören oder durch das kleine Dorf zu laufen, in dem ich mein komplettes Leben bisher verbracht hatte. Ich zeigte ihr wichtige Orte aus meiner Kindheit, den winzigen Plattenladen am Ende meiner Straße und einen kleinen Kiosk, wo sie sich Zigaretten kaufen konnte. Meistens regnete es und wir mussten uns bei unseren Spaziergängen einen Schirm teilen. Manchmal konnte ich sie sogar dazu überzeugen, ein bisschen für unsere ZAG-Prüfungen nach den Ferien zu lernen. Abends saßen wir in meinem Zimmer, hörten das neue Album der Pixies und redeten über alles. Teilweise las ich ihr sogar Teile der Geschichten, die ich über unsere Freundesgruppe mit elf geschrieben hatte, vor. Ich fand sie furchtbar, sie fand sie süß. Diese Abende waren das Beste an ihrem Aufenthalt, das Reden, Lachen, Schweigen ohne, dass es unangenehm war und das Gefühl, dass es nie zu Ende gehen würde, wenn wir einfach nur länger wach blieben. Mit Ava fühlte ich mich immer irgendwie unbesiegbar. Sie schlich, sobald meine Mutter schlief, rüber und meistens endete die Nacht damit, dass wir beide auf dem Teppich vor meinem Bett einschliefen. Ich war mir sicher, dass sie keine einzige dieser Nächte tatsächlich in ihrem Bett geschlafen hatte. Auch an ihrem letzten Abend und gleichzeitig dem Hochzeitstag meiner Eltern fanden wir uns in meinem Zimmer wieder. Es war ein harter Tag gewesen, meine Mutter war bis Mittag nicht aus dem Bett gekommen. Ava und ich hatten ihr schließlich beim Kochen geholfen und später ließ ich mich tatsächlich von den beiden dazu überzeugen, Dirty Dancing zu schauen. Uns allen dreien tat es gut, Ava bei uns zu haben. Nach diesen fünf Tagen war sie für meine Mutter quasi eine dritte Tochter. Keine Ahnung, wie sie nach Maeve und mir noch die Energie für eine Weitere hatte. Die beiden redeten oft in der Früh wenn ich ausschlief und bereiteten zusammen das Frühstück zu. Es war schon immer eins von Avas Talenten gewesen, mit ihrer Art alle Eltern zu verzaubern. Dass sie auf die selben Liebesschnulzen wie meine Mutter stand, passte natürlich perfekt.

Nachdem die beiden endlich aufgehört hatten über „Baby" und Johnny zu reden und meine Mutter ins Bett gegangen war, hatte es wie gewohnt bei mir geklopft. Schließlich hatten wir mein Fenster geöffnet, uns auf den Rand gesetzt und die Füße runterbaumeln lassen. Wir schwiegen eine Weile. Es war ein langer Tag gewesen und ich fühlte mich melancholisch.

„Wirst du mir jemals erzählen, was damals mit deinem Vater passiert ist?", fragte Ava in die Dunkelheit ohne mich anzusehen. Ich merkte immer, wenn ihr diese Frage auf der Zunge lag, doch auch nach über vier Jahren Freundschaft konnte ich ihr darauf keine Antwort geben. Wie sollte man jemandem erzählen, dass der eigene Vater ein Todesser war? Ich wusste, das Leute mich danach mit anderen Augen sehen würden. Andererseits hatte Ava in ihrer Muggelkindheit nichts davon mitbekommen, sie konnte nie ganz nachvollziehen, wie die Zeit damals gewesen war. Für sie war es ein Teil unserer Geschichte, aber sie hatte nicht dieselben Emotionen wie die Zaubererwelt dazu. Trotzdem konnte ich einfach nicht wissen, wie sie reagieren würde.

„Ich weiß nicht, ob ich kann.", antwortete ich schließlich. Ava schwieg, sie schien mit einer Abweisung gerechnet zu haben. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie verstand Dinge ohne, dass ich sie erklären musste. Trotzdem wirkte sie selbst irgendwie abwesend. Morgen war ihre Abreise.

„Alles okay?", fragte ich, nachdem ich etwas näher herangerutscht war. Sie versuchte zu lächeln, es gelang ihr nicht wirklich. Ihre Lippen schienen aktuell das Einzige in ihrem Gesicht zu sein, das noch Farbe hatte. Ein sanftes rosa.

„Eher nicht."

Sie schien nicht weiter reden zu wollen und holte stattdessen eine Packung Zigaretten aus ihrer Hosentasche. Rote Marlboro's, sie waren aus dem Kiosk im Dorf. Ich konnte nicht anders, als zu lachen.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass Ava Walsh raucht."

Sie grinste.

„Was ist daran denn so abwegig?"

Ich grinste zurück und zuckte mit den Schultern. Es war nett, dort so zu sitzen. Die meisten Schüler in Hogwarts hatten vermutlich keine Ahnung, was Zigaretten waren, doch Ava und ich waren nun mal mit Muggeln aufgewachsen. Sie packte ein Feuerzeug aus, steckte sich das beige Ende in den Mund und hielt die Flamme für ein paar Sekunden an das andere. Ich beobachtete, wie sie den ersten Zug nahm. Sie sah ziemlich toll aus. Jede ihrer Bewegungen erinnerte mich an flüssiges Wachs, langsam und sinnlich. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Haltung wurde mit jedem Zug entspannter. Stumm hielt sie mir die Zigarette hin und ich nickte abwesend, doch ich konnte nicht aufhören, ihren Mund anzustarren. Das fiel ihr auf, doch sie sagte nichts. Mit zwei Fingern griff ich sie und zog zum ersten Mal an einer Zigarette. Natürlich hustete ich und Ava klopfte mir hilfsbereit auf den Rücken. Doch auch, als ich mich beruhigt hatte, ließ sie ihre Hand auf meiner Wirbelsäule ruhen. Ihre Wärme brannte sich durch meine Jacke und meinen Pulli auf die Haut darunter. Sie sah mich an, ich sah ihre Lippen an und wir sagten nichts. Urplötzlich überkam mich dieses Gefühl der Sehnsucht und Leidenschaft, was sich irgendwie neu und gleichzeitig nur allzu bekannt anfühlte. Ich stand eilig auf, warf die Kippe aus dem Fenster und lief im schnellen Schritt zu meinem Bett.

„Hey, die war nicht mal zur Hälfte aufgebraucht!"

„Sorry.", nuschelte ich und fummelte an meinem Walkman herum und versuchte, diesen seltsamen Moment zu vergessen. Ich wusste nicht, was ich als Nächstes getan hätte, doch tief in mir drinnen irgendwie schon. Ava sah vom Fenster verwirrt zu mir rüber. Für sie war das wahrscheinlich nichts Besonderes gewesen, doch ich konnte kaum die Gedanken in meinem Kopf ordnen. Wieso hatte sie ihre Hand überhaupt auf meinem Rücken gelassen?Tat man das unter Freundinnen so?

„Sitzt du jetzt im Zug wieder bei uns?", wechselte ich das Thema. Ava hörte auf, mich irritiert anzustarren und setzte sich zu mir aufs Bett. Das Fenster ließ sie offen, sodass die milde Aprilluft zu uns rüber wehte.

„Wenn's okay ist, ja.Ich wollte davor auch bei euch sitzen, aber es ist tatsächlich deutlich leichter, nicht an meine abgefuckte Familie zu denken, wenn mir ständig irgendein Typ am BH rumfummelt."

Ich nickte und murmelte irgendwas davon, dass das Sinn ergäbe. Über ihre Typen wollte ich aber wirklich nicht sprechen, also holte ich die Kassette zu meinem Lieblingsalbum der Pixies, Surfer Rosa, legte sie ein und wir teilten uns schweigend die Kopfhörer. Währenddessen dachte ich an die letzten Monate zurück, in denen wir so wenig gesprochen hatten. Wie fremd wir uns noch vor einer Woche gewesen waren und wie wir jetzt auf einmal hier so saßen. Wie schnell Dinge sich ändern konnten, obwohl wir glaubten, alles darüber zu wissen. Ich hatte geglaubt, Ava war fertig mit mir gewesen, ich hatte geglaubt, ich könnte mich mit Schule oder einer Verabredung von ihr ablenken. Noch nie in meinem Leben hatte eine Freundschaft so viel Bedeutung für mich gehabt.

„Warum bist du hierher gekommen?Tonks wohnt praktisch neben dir, du hättest dir zwei Stunden Zugfahrt gespart."

Diese Tatsache brachte mich immer wieder zum Nachdenken. Sie war hierher gekommen, nicht zu Tonks, nicht zu Harper, sondern zu mir, obwohl wir zerstritten waren. Ava zuckte mit den Schultern. Sie schien sich nicht viele Gedanken dazu gemacht zu haben.

„Ich wollte eben zu dir."

Kurz bekam ich Gänsehaut bei diesen Worten, doch dann ermahnte ich mich selbst wieder. Das machten Freundinnen so. Wir waren Freundinnen seit vier Jahren, natürlich machte man das so.

An unseren Abschied am nächsten Morgen erinnerte ich mich kaum, ich fühlte mich wie ein auktorialer Erzähler, der das Geschehen neutral beobachtete. Ich fühlte nichts, als Ava mich umarmte und mir unter Tränen dankte, auch nicht, als meine Mutter ihr sagte, sie sei immer willkommen und Ava daraufhin noch mehr weinte. Es war so anstrengend zu fühlen, also beschäftigte ich mich den Rest des Tages mit anderen Dingen und ignorierte die stille Sorge, dass, sobald wir wieder in Hogwarts waren, alles so werden würde wie vor den Ferien. Ich war nicht sicher, ob ich das nochmal ertragen könnte.

These Are the Days of Our LivesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt