Kapitel 39: Kugelmenschen

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Zögernd strich ich zum fünften Mal mein weißes Hemd glatt und warf einen nachdenklichen Blick auf die weinrote Krawatte in meiner Hand, stopfte sie jedoch entschieden zurück in meine Hosentasche. Das Hemd und die Anzugshose waren schon maskulin genug. Meine Braids hatte ich leider vor einer Weile rausnehmen müssen, sodass ich heute meinen gründlich gestylten Afro trug, was mich „nur" zwei Stunden heute Morgen gekostet hatte. Dafür sah er wirklich gut aus und die silbernen Hängeohrringe, die ich trug, rundeten das ganze schön ab. Es erübrigte sich, zu erwähnen, dass ich Tonks' und Avas Hilfe bei meinem ganzen Aufzug gehabt hatte. Mein Spiegelbild sah mich an und mir fiel auf einmal auf, dass ich mich selbst erkannte. Obwohl ich so aufgebretzelt und selbstbewusst wirkte, erkannte ich mich selbst in dieser Hülle aus Make-Up und Performance. Die Person, die mein Leben das vergangene Jahr über für mich gelebt hatte, diese andere, hoffnungslose, graue Version von mir selbst, schlummerte noch irgendwie in mir drinnen, doch jetzt steuerte wieder die andere Ellen. Als sie mir im Spiegel entgegenstarrte, hatte ich das Gefühl eine Fremde, die ich nur allzu gut kannte zu wiederzusehen. Nach einem Jahr voller Stress, Schlafmangel und Sorgen war sie wieder da, aber irgendwie erwachsener und ausgeglichener. In diesen paar Sekunden, in denen ich mich selbst einfach nur ansah, spürte ich, dass ich nicht dazu verdammt war, eine abgestumpfte Person zu sein.

Wie lebte man weiter, wenn einem klar wurde, dass man kein hoffnungsloser Fall war?

Vor der Badezimmertür ertönte eine Stimme, sie klang weit weg, als würde jemand vom anderen Ende eines Tunnels nach mir rufen. Für einen Moment schloss ich die Augen, sammelte mich, um irgendwie bereit für diesen Tag zu werden. Schließlich trat ich nach draußen und traf auf Warren, der Hilfe bei den letzten Dekorationen brauchte. Seine Stimme klang viel tiefer als noch vor einigen Monaten, da er angefangen hatte, Testosteron zu nehmen. In seinem Anzug mit der dunkelblauen Fliege, die zu Harpers Kleid passte, sah er so schick aus, dass ich einfach kurz lächeln musste.

„Was?", fragte er grinsend, als er meinen Blick bermerkte.

„Lad Harper heute Abend zum Tanzen ein, okay?"

Er schien zu verwirrt, um zu antworten und signalisierte mir stattdessen, ihm zurück in den Garten zu folgen. Während des Gehens sagte er:

„Hey, denk dran, falls jemand fragt-"

„Es findet eine Bar Mitzvah statt. Weiß ich."

Auf einmal blieb er abrupt stehen und beäugte mich mit leichter Empörung.

„Hey, wo ist sie?"

Nach einem kurzen Versuch, so zu tun, als hätte ich keine Ahnung, wovon er sprach, den er sofort durchschaute, gab ich auf. Ertappt fischte ich die Krawatte aus meiner Hosentasche.

„Ich hab sie dir extra geliehen!"

Zögernd sah ich mich um, wir standen in einem engen Durchgang, der abgesehen von uns vollkommen leer war.

„Naja, ich weiß nicht ob ich mich hier so...maskulin kleiden kann." Es war in letzter Zeit immer gehäufter vorgekommen, dass Leute angemerkt hatten, dass ich mich nicht so „jungenhaft" kleiden sollte. Zum Glück nie meine Mutter, aber dafür zahlreiche Tanten oder ältere Leute aus meinem Dorf. Irgendwie machte es mich vorsichtiger in der Art, wie ich mich präsentierte.

„Ellen, ist das dein Ernst?Eine schwule Hochzeit ist genau der Ort, an dem du dich so kleiden kannst! Weißt du überhaupt wie queer dieser Abend wird? Zwei Drittel der Gäste sind wahrscheinlich Drag Queens."

Mir wurde klar, wie dumm ich klang, also reichte ich ihm die Krawatte und er half mir, sie anzuziehen. Während er den Knoten band, sah er mir in die Augen und sagte:

„Tu mir einen Gefallen und lad Ava heute zum Tanzen ein, okay?"

Fast wäre ich defensiv geworden, doch Warren sagte es so aufrichtig und liebevoll, dass ich nur sanft lächeln und stumm nicken konnte. Wir setzten unseren Weg Richtung Garten fort, doch ich blieb ehrfürchtig stehen sobald wir durch die Schiebetür hinaustraten. Die Augustsonne prallte auf uns herab und blendete mich so sehr, dass ich die Augen zusammenkneifen musste, um alles vor mir zu aufnehmen zu können. Der Veranstaltungsort selbst befand sich abseits eines Vororts von London, war ziemlich klein und wurde eher für kleinere Geburtstage genutzt, doch der Garten war das, was ihn so beeindruckend machte. Die Fläche musste mindestens halb so groß sein wie das Gelände um Hogwarts herum und war stark bewachsen. Abgesehen von einer Fläche für die Tische, Tanzfläche und die Terrasse, die direkt an die Schiebetür anschloss, waren wir umringt von hunderten von Baum- und Blumenarten, dessen Farben und Gerüche, die Luft erfüllten und die Hochzeitsgarnitur wie ein geheimes Paradies mitten im Wald aussehen ließen. Zwischen den Birken und Kastanienbäumen zweigten immer wieder kleine Wege ab, die zu abseits gelegenen Bänken zum Entspannen oder Gartenhäusern und Beeten führten. In der Ferne konnte ich Tonks wegen ihrer Pollenallergie unaufhörlich nießen hören.
Durch die Baumkronen erlangte man einen Blick auf den strahlend blauen Himmel, der, obwohl es schon später Nachmittag war aufgrund der Sommerzeit noch für eine Weile heute zu sehen sein würde. Doch auch die Dekorationen für die Hochzeit war atemberaubend. Um die schwarz-weiß karierte Tanzfläche in der Mitte herum waren Dutzende runde weiße Tische mit weiteren bunten Blumen als Tischdekoration aufgestellt, doch das Beeindruckendste waren die Lichterketten die an den Bäumen ringsherum über den Tischen entlanggespannt waren und and einer großen Trauerweide, am Kopf des Ganzen und direkt gegenüber von der Terrasse aufeinander trafen. Dort würden in nur wenigen Stunden Bao und Gabe stehen.
Ersterer kam uns hastig entgegen gelaufen. Logischerweise trug er noch nicht seinen Smoking sondern wie immer eine legere Leinenhose und ein weißes Tanktop. Baos schweigsame Seite schien während der Hochzeitsvorbereitungen verschwunden zu sein, stattdessen tauchte er regelmäßig auf, um uns irgendwelche Befehle zu geben und teilte ungefähr alle paar Stunden seine Sorge, dass sowieso alles schiefgehen würde.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 28 ⏰

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