Kapitel 4 - 600 Meter

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Es war Samstag. Ich zog mir meine kurze Nike-Pro und mein Vereinstop an. Dann machte ich mir einen hohen Zopf und schnappte mir meine Spikes. Ich ging aus der Umkleide und direkt zu meinen Trainer. Dieser leitete mich an, mich zwei lockere Runden warm zu laufen. Dann machte ich noch ein kurzes Lauf-ABC, um meine Beine und Fußgelenke zu mobilisieren. Mein Trainer sprach mir schließlich noch ein paar motivierende Worte zu, ehe meine Gruppe auch schon an den Start gerufen wurde. Ich hatte heute komischerweise ein etwas mulmiges Gefühl im Bauch und sah noch einmal kurz zur Tribüne, auf welcher Tom direkt in der ersten Reihe saß und mir ein aufmunterndes Lächeln zuwarf. Sein Anblick beruhigte mich ein wenig und ich atmete einmal tief durch. Ich wollte den heutigen Lauf um jeden Preis besser machen, als den letzte Woche. Vor lauter Aufregung und Anspannung hatte ich es heute Morgen nicht mal geschafft etwas zu essen. Nun kam das erste Signal "Auf die Plätze!". Ich begab mich in Position. Wie immer beim 800-Meter-Lauf , folgte daraufhin nur noch das Signal "Los!". Ich hörte jetzt schon mein Herz wie wild in meinem Brustkorb beben. Schnell reagierte mein Körper auf das Signal der zusammenschlagenden Klappe und ich lief in einem hohen Tempo los. Ich hatte vor dem Lauf noch Ausschau nach meiner vermeintlichen Konkurrentin gehalten, konnte diese zu meinem Glück heute aber nirgendwo entdecken. Die erste Runde lief gut. Ich spürte, dass ich relativ fit war und auch meine Atmung hatte sich nach den ersten 100 Metern wieder normalisiert. Dennoch entschied sich mein Körper nach 600 gelaufenen Metern gegen mich. Mit einem Mal verschwamm meine Sicht und mir wurde kotzübel. Ich spürte einen Druck auf meinem Magen und mein Kopf fing an zu pochen. Als mir plötzlich auch noch eiskalt wurde, war es scheinbar endgültig vorbei. Verschwommen und in Zeitlupe nahm ich nur noch wahr, wie ich es nicht mehr schaffte einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mir wurde schwarz vor Augen und ab dem Moment setzte meine Erinnerung aus.

Einige Zeit später vernahm ich wieder dumpfe Stimmen. Wenn ich genauer hinhörte, konnte ich einen besorgten Tonfall erkennen. Ich versuchte langsam meine Augen zu öffnen und blinzelte ein paar Mal, um wieder meine Sicht zu erlangen. Verwirrt sah ich mich um. Eben war ich noch auf der Tartan-Bahn gewesen und nun befand ich mich in einer geräumigen Umkleidekabine, die wohl das improvisierte Krankenzimmer darstellen sollte. "Hey Nora! Ein Glück, da bist du ja wieder! Man, hast du uns einen Schrecken eingejagt. Wie geht's dir?", vernahm ich schließlich die Stimme meines Trainers und kurz darauf erblickte ich auch Tom, welcher direkt neben ihm stand und meine Hand hielt. Als er ebenfalls realisierte, dass ich gerade wieder wach wurde, leuchteten seine besorgten Augen auf und er kniete sich direkt zu mir runter und strich mir über die Wange. "Ging mir schonmal besser.", nuschelte ich schließlich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte und ich brachte ein schwaches Lächeln auf meine Lippen. "Du musst einen ziemlich heftigen Kreislaufzusammenbruch gehabt haben.", erklärte mein Trainer mir dann. In dem Moment betrat eine junge Frau den Raum. Sie kam direkt auf uns zu. "Ich hab Medikamente und Verbandszeug geholt. Ist sie mittlerweile wieder ansprechbar?", fragte sie meinen Trainer, während mein Gehirn anfing zu rattern. Die Stimme kam mir bekannt vor, aber ich konnte sie irgendwie nicht zuordnen. Als mein Trainer nickte und er und mein Freund schließlich beide zur Seite traten, um sie an mich ran zu lassen, erkannte ich die Frau. Es war Frau Hanses. Mein Körper hatte keine Kraft, um Wut oder ähnliches aufzubringen. Ich lag einfach da und starrte sie für einen kleinen Moment an. Sie setzte sich vor mir auf einen Stuhl und legte mein aufgeschürftes Bein vorsichtig auf ihren Schoß. "Das hätten wir wohl besser gemacht, als sie noch bewusstlos gewesen ist. Dann hätte sie wenigstens das Brennen nicht mitbekommen.", sagte sie, während sie das Desinfektionsmittel zückte. Ohne jegliche Vorwarnung sprühte sie es schließlich auf mein Knie. Ich zog den Atem scharf durch die Zähne ein. "Tut mir leid, mit Vorwarnung ist es nur noch schlimmer, glaub mir.", sagte sie schließlich und sah mich kurz entschuldigend an. Wow, war sie gerade freundlich zu mir gewesen? Vielleicht hatte ich mir das aber auch nur eingebildet. Sie versorgte mein Knie schließlich zu Ende. Mein Trainer hatte bereits den Raum verlassen, denn er musste noch weitere Athleten unseres Vereins beim Turnier betreuen und ich war nun schließlich wieder aufgewacht und wurde versorgt. Toms Handy klingelte und er sah kurz entschuldigend zu mir. "Sorry, ich muss da eben ran gehen. Das sind Sophie und Amelie. Die rufen mich schon die ganze Zeit an und sind voller Sorge.". Er gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn und ließ mich somit mit Frau Hanses alleine. Ich konnte es ihm nicht verübeln, schließlich wusste er vermutlich nicht mehr, dass es sich bei der Frau um Frau Hanses handelte und sie kümmerte sich ja sogar um mich. Die Blondine sah nun zu mir rüber und legte mein Bein fertig verarztet wieder sanft auf der Bank, auf welcher ich lag, ab. "Hast du eine Ahnung warum du umgekippt bist?", fragte sie mich nun und es schien, als würde sie diese Frage wirklich interessieren. Mir fiel komischerweise direkt auf, dass sie mich duzte, aber ich konnte es ihr wohl nicht vorwerfen. Schließlich waren wir nicht in der Schule und beim Sport war es Gang und Gebe, sich untereinander zu duzen. "Hab heute Morgen nichts gegessen und schon den ganzen Tag ein komisches Gefühl gehabt, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so ein Ding ist.", antwortete ich dann ehrlich und wir fingen tatsächlich an so etwas wie eine normale Konversation zu führen. "Hast du deine Tage?", fragte sie mich daraufhin ziemlich direkt. Es war eine private Frage, aber auch eine naheliegende Frage, die einem im Sport oft gestellt wurde und mir daher mittlerweile eigentlich nicht unangenehm war. Vor ihr war sie mir jedoch irgendwie dennoch etwas unangenehm. "Nein.", antwortete ich kopfschüttelnd. Sie kramte daraufhin in ihrer Tasche, aus der sie zuvor das Verband geholt hatte und hielt mir schließlich eine Tablette und eine Trinkflasche entgegen. "Nimm die und trink mindestens die Hälfte der Flasche danach leer.", befahl sie mir nun. Ich hob skeptisch meine Augenbrauen. "Was ist das?", fragte ich, bevor ich eines der Dinge auch nur entgegen nahm. "Vertigoheel. Sollte deinen Kreislauf wieder etwas stabilisieren.", erklärte sie mir und hielt es mir weiterhin entgegen. Ich sah sie noch einmal prüfend an . "Wir hatten vielleicht keinen guten Star, aber ich werd dich schon nicht vergiften wollen, oder?", fügte sie dann hinzu und ich nahm ihr schließlich beides ab. Die Tablette schluckte ich schließlich und auch das Wasser trank ich, wie sie es mir befohlen hatte. Dabei fand ich es sehr komisch aus der Trinkflasche meiner Lehrerin zu trinken. Ich gab ihr die Flasche wieder und bedankte mich schließlich. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie heute keine Sportkleidung trug. Ich hatte mich also wirklich nicht damit getäuscht, als ich sie vorhin nicht unter den Athletinnen entdeckt hatte. "Warum sind Sie heute nicht mitgelaufen?", stellte ich schließlich die Frage, die mir unter den Nägeln brannte. "Ich muss dir ja auch mal 'ne Chance geben zu gewinnen, oder?", antwortete sie daraufhin und schmunzelte leicht. Frau Hanses schmunzelte? Es wirkte ja fast, als hätte sie ein wenig Humor hinter ihrer Steinfassade. Ich verdrehte die Augen, konnte mir aber ein kleines Schmunzeln ebenfalls nicht verkneifen. "Ich glaub ja eher, Sie sind noch zu erschöpft von letzter Woche.", stichelte ich nun zurück und grinste leicht. Sie schüttelte daraufhin nur mit einem leisen Lachen den Kopf. "Oh ja, das ist es.", antwortete sie und nickte ironisch. Sie war wirklich hübsch wenn sie lachte. So wirkte sie ganz anders. Irgendwie unbeschwert und lebensfroh. Außerdem brachte es ihre grünen Augen zum Strahlen. Einen kurzen Moment trafen sich unsere Blicke und ich sah irgendetwas in ihren Augen aufleuchten. Doch dieses gewisse etwas erlosch direkt, als wir beide Toms Stimme wieder wahrnahmen. Ihr Blick wurde wieder so emotionslos, wie ich ihn aus der Schule kannte. Ihr Verhalten verwirrte mich total. Warum verstellte sie sich so, wenn sie auch einfach nett sein konnte? Das musste doch auch anstrengend sein. Außerdem fiel mir jetzt auch erst auf, wie gut sie meiner Frage, warum sie heute nicht mitgelaufen war, eigentlich aus dem Weg gegangen ist. Diese Frau war mir echt ein Rätsel. Schnell schob ich meine Gedanken bei Seite und lächelte Tom an, welcher sein Handy gerade weggesteckt hatte und auf mich zu ging. "Amelie kommt gleich und holt uns ab, dann müssen wir nicht warten, bis die anderen Wettkämpfe durch sind.", sagte er dann und lächelte, als er merkte, dass es mir schon besser ging. Wir sind vorher mit den anderen Leuten aus meinem Verein zum Wettkampf gefahren, aber der würde wohl noch den ganzen Tag dauern und ich wollte, auch wenn es mir schon besser ging, sehr gerne möglichst schnell in mein kuscheliges Bett und mich ausruhen. "Amelie ist echt die beste.", erwiderte ich erleichtert und richtete mich schließlich langsam aus meiner Liegeposition auf. "Dann noch gute Besserung", hörte ich eine neutrale Frau Hanses von der Seite sagen, die gerade dabei war dem Raum zu verlassen. "Danke.", sagte ich ihr hinterher. Beim Verlassen des Raumes bemerkte ich, wie sie Tom noch einmal etwas genauer musterte. Irgendwie störte mich das. Was kümmerte es sie, mit wem ich meine Zeit verbrachte und wer mein Freund war? Ich schüttelte den Gedanken weg. Ich glaube manchmal interpretierte ich auch einfach zu viel in das Verhalten dieser Frau hinein.

Tom und ich warteten schließlich gemeinsam auf Amelie. Als diese keine halbe Stunde später da war, meldete ich mich noch schnell bei meinem Trainer ab, ehe wir drei dann zusammen nach Hause fuhren. Amelie blieb noch ein wenig bei uns und wir aßen gemeinsam Tiefkühlpizza und machten es uns auf der Coach bequem. So war der Nachmittag trotz meines holprigen Wettkampfes doch noch ganz schön gewesen. Am Abend verabschiedete sich Amelie dann und auch ich ging an diesem Tag schon früh ins Bett, da mein Körper doch noch sehr erschöpft war. Tom kam später auch irgendwann dazu, was ich im Halbschlaf noch bemerkte, ehe es mich dann schließlich komplett ins Land der Träume zog.

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