Die Nacht, die alles veränderte

36 6 4
                                    

Sanna lag noch immer wach. Die junge Frau wälzte sich auf ihrem Lager in der Hütte ihrer Eltern, von einer Seite auf die andere. Es war nur eine kleine runde Holzhütte mit einem Dach aus Reisigzweigen und mit einem einzigen Fenster, welches mit einer getrockneten Wildschweinblase abgedeckt war. Vor der Tür hing ein Hirschfell zum Schutz vor der kühlen Frühlingsluft. Die junge Frau hatte die Tür immer im Blick, denn sie wartete.

Wartete noch immer auf ihre Schwester, Leda, während sie dem ruhigen Atem ihrer Eltern horchte. Ungeduldig lauschte sie und es war schließlich die Neugierde, die sie herauslockte.

Der dritte Mond, stand schmal und sichelförmig am schwarzen Himmel und strahlte die Welt mit einem zarten Rosé an. Sanna war vollkommen alleine draußen. Ihre restlichen Stammgenossen hatten sich bereits zurückgezogen. An der großen Feuerstelle glühten noch ein paar hartnäckige Holzscheite.

Sie blähte die Nasenflügel und sog die Nachtluft ein. Der Duft des frisch erlegten Hirsches lag deutlich in der Luft, doch die Fährte ihrer Schwester war zwischen all den anderen Gerüchen nicht mehr wahrnehmbar. Zu viel Schweiß war geflossen, bei dem ausgiebigen Tanz um das Feuer. Zu viel Erde aufgewühlt. Sanna ärgerte sich nicht nur, weil sie nicht bemerkt hatte, wie sich ihre Schwester wegschlich, sondern auch darüber, dass sie noch nicht zurückgekehrt war.

Ungeduldig schlenderte die junge Frau auf das östliche Ende des Dorfes zu und zog sich das Fell enger über ihre Schultern, weil sie fröstelte. Der zarte sandfarbene Flaum der ihren ganzen Körper bedeckte trug kaum zur Thermoregulierung bei.

Lautlos bahnte sich Sanna einen Weg durch das Unterholz des Waldes. Sie fürchtete sich nicht. Nicht vor der Dunkelheit, in der sie mehr sehen konnte, als ein Mensch, und auch nicht vor den Tieren. Der Wald war ihre Heimat und ihr Volk lebte im Einklang mit ihm.

Für einen Menschen wäre es womöglich still gewesen, doch Sanna hörte das Rascheln von futtersuchendem Getier am Boden, das Säuseln der Blätter und die Rufe der unterschiedlichsten Tiere.

Nur Leda und ihren Begleiter konnte sie nicht ausmachen.

Dann nahm sie plötzlich noch etwas anderes wahr. Etwas, dass ihren Herzschlag beschleunigte und ihr wirklich angst machte: Der Geruch von Menschen. Sie waren ganz nah.

In unmittelbarer Nähe erklang der Warnruf eines Wolfes und ihr lief sofort ein eiskalter Schauer den Rücken herab.

Vor Angst war sie wie gelähmt. Ihr Instinkt riet ihr zur Flucht, doch sie fühlte sich auch verpflichtet ihren Stamm zu warnen. Die Entscheidung wurde ihr jedoch abgenommen.

Sanna drehte sich auf der Stelle, als sie die Schreie hinter sich hörte. Verzweifelt und angsterfüllt. Das Brüllen eines Bären mischte sich darunter und allmählich erklang auch das Knistern eines Feuers. Als sich die Angststarre endlich von ihr löste, spürte sie eine heftige Berührung am Arm.

„FLIEH!" Es war ihre Schwester.

Leda riss sie am Arm mit sich und Sanna sah noch, wie ein Bär vor ihnen zwischen den Bäumen verschwand.

„SANNA!", fauchte Leda, weil die Jüngere nicht gehorchte.

„Wir müssen-"

„FLIEH'N!"

Sanna gab dem Drängen nach. Gemeinsam hasteten sie durch die Dunkelheit, die Schreie und Rufe der anderen im Rücken. Leda führte sie zielstrebig zu einer mächtigen alten Eiche und ließ sie erst dann los, als sie deren Stamm erreicht hatten.

Sanna sah, wie der dunkle Baummarder mühelos die Rinde hinaufkletterte. Sie zögerte noch einem Atemzug lang, dann tat sie es ihrer Schwester gleich.

Der Wald war beinahe taghell für das flinke Raubtier. Spielerisch kletterte sie ihrem Artgenossen hinterher, ließ sich einen Moment von dem köstlichen Geruch eines Vogels ablenken, der krächzend vom Ast hüpfte, und folgte dann wieder dem anderen Marder. In der Baumkrone hielten sie inne und schließlich war Sanna die Erste, die ihre natürliche Gestalt annahm.

Die Flamme MajorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt