Alleine im Exil

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Leda sprach nicht.

Seit Stunden schon und Sanna trottete ihrer Schwester niedergeschlagen und hörig hinterher. Wie ein Hirschkalb seiner Mutter. Die Leere und die Schuld begannen sie währenddessen von innen heraus aufzufressen. Noch hatte Leda ihr nichts vorgeworfen, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis sie es tun würde.

Ihre Schwester blieb plötzlich an einem Baum stehen und betrachtete die eingeschnittenen Kerben darauf. Sanna tat es ihr, in gebührendem Abstand, gleich.

„Wir haben noch nicht einmal unseren Wald verlassen", sagte Leda leise, jedoch ohne sie anzusehen.

Sanna blähte die Nasenflügel, um den vertrauten Duft einzusaugen. Sie kannte ihn und auch die Geräusche um sich herum. Sie waren fast einen ganzen Tag gelaufen, ohne sich wirklich zu entfernen.

„Man wird uns mit Gewalt fortjagen, wenn wir nicht gehen ...", sprach Leda mehr zu sich selbst, als zu Sanna.

Ihre Schwester senkte demütig den Kopf und flüsterte leise: „Leda, es-"

„HALT DEN MUND!" Leda schnappte wütend in ihre Richtung und Sanna wich unwillkürlich zurück und legte ihre Ohren an, gehorchte allerdings.

Sie wurden in der gleichen Nacht aus demselben Schoß geboren und doch waren sie so unterschiedlich wie der Tag und die Nacht, nicht nur rein äußerlich, sondern auch in ihrem Innern. Während Leda, mit ihrem dunklen Haar und den grünen Augen die Ruhe und die Klarheit der Nacht besaß, war Sanna von jeher der unbedarfte und fröhliche Part ihrer Zwillingsverbindung. So wie sich die Strahlen der Sonnen in ihrem hellen Haar widerspiegelten, so spiegelte sich auch die Neugierde in ihren hellblauen Augen wider.

Dabei war es nicht nur ihre außergewöhnliche Ungleichheit von wundersamer Natur, sondern auch die Tatsache, dass sie beide in einem harten Winter unter dem Sternbild des Drachens geboren worden waren. Kinder, die in jener Jahreszeit das Licht der Welt erblickten, überlebten meistens nicht. Bei Leda und Sanna war es anders gewesen und allein das hatte das Zwillingspaar in ihrem Stamm schon immer zu Sonderlingen gemacht.

„Was schlägst du vor?", fragte Sanna nach einer Weile und näherte sich ihrer Schwester vorsichtig.

Leda starrte noch immer die Schnitzerei im Stamm an. Traurig und verbittert.

„Wir sollten auch in der Nacht weitergehen und uns besser schneller entfernen."

Diese Worte schmerzten in beiden Herzen sehr.

Der Stamm hatte ihr Leben bestimmt. Mit ihrer eingebüßten Integration hatten die jungen Frauen auch ihre Identität und ihren Wert verloren. Sie hatten keine Familie mehr, keine Freunde und Leda verlor auch ihren Partner. Sie standen vor dem Nichts. Ratlos, haltlos und ohne Hoffnung.

Sanna fühlte sich für all das verantwortlich.

„Ja", sagte sie nur, dann ging sie voraus – sie musste nun für Leda stark sein.

Trotz des Vorsatzes kamen sie weiterhin nur schleppend voran, denn ihre Herzen zügelten ihre Schritte. Schließlich hatten sie es nur Ledas Verbissenheit zu verdanken, dass sie in dieser Nacht noch das süd-östliche Ende des Waldes erreichten.

Da sie in der Nähe einer menschlichen Straße rasteten, wagten sie es nicht ein Feuer zu entzünden und wickelten sich in ihre Felle und schauten zwischen den Baumwipfeln in den Himmel.

Es hatte wieder ein Mondwechsel stattgefunden und der vierte Mond, begann zuzunehmen. Andalon hatte zehn Monde, die in einem ständigen Wechsel miteinander standen. Nach diesem Zyklus, begann ein neues Jahr. Die Monde waren alle unterschiedlich groß und leuchteten in den unterschiedlichsten Farben. Der vierte Mond strahlte in einem dumpfen Orange.

Die Flamme MajorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt