Die Wege trennen sich

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Die Zeit verging rasch. Es gab viel zu tun und Sanna tat alles, um Avis und sein Volk zu unterstützen. Leda nahm dies murrend zur Kenntnis und unterstützte ihre Schwester, drängte jedoch täglich zum Aufbruch.

Während die Menschen mit dem Wiederaufbau ihrer Siedlung begannen, fragte Sanna sich, wie es inzwischen in ihrem Dorf aussah.

Hatte ihr Stamm neues Terrain erschlossen oder hatten sie die zerstörte Heimat wieder aufgebaut?

Würde alles wieder so sein wie früher?

Eine Frage lag ihr besonders auf dem Herzen: Würde es wirklich noch ihre Heimat sein?

Die Verbannung durch ihre Stammesgenossen hatte eine tiefe Wunde und auch Misstrauen in ihrem Herzen hinterlassen. Sanna hatte Angst davor zurückzukehren. Angst davor, fremd zu sein an einem Ort, der die Geburtsstätte ihres Seins war.

Konnte sie das ertragen?

Sie nahm die Traditionen und Zeremonien der Menschen als wundersam und eigenartig wahr. Das Leben der Menschen war anders, als Sanna es kannte. Sie waren viel enger miteinander, als mit der Natur verbunden. Was sie zu Beginn befremdlich und beängstigend fand, lernte sie mit der Zeit kennen und schätzen. Die Menschen hatten Gründe für viele Dinge, die sie taten. Man konnte es jedoch nur verstehen, wenn man sich für ihre Bräuche öffnete.

Avis legte den letzten Tannenzweig auf das Grab seines Bruders.

Dann wurde ein langsamer und trauriger Gesang angestimmt.

Sanna wich Avis in dieser schweren Zeit kaum von der Seite und er war darum unsäglich dankbar.

Der Angriff auf Abietia sollte das Volk für immer verändern. Das Blut der kleinen stämmigen Ponys war nun durchmischt mit dem der Warmblüter, die durch die Schlacht zurückgeblieben waren. Die großen Lücken in der Stadt wurden durch schnellwachsende Fichten-Setzlingen geschlossen und die Menschen waren nun gezwungen zu lernen, wie man Häuser ohne den Schutz der Bäume baute.

Avis war stets beschäftigt und diese Emsigkeit lenkte ihn von der Trauer und dem Schmerz ab, während Sanna sich zwischen zwei Welten hin- und hergerissen fühlte. Leda bedrängte sie täglich, zum Aufbruch doch Sanna fand immer wieder einen Grund für eine Verzögerung. Sie wusste aber auch, dass der Tag kommen würde, an dem Leda von Sanna eine Erklärung verlangte. Und vor diesem Moment fürchtete sie sich, denn sie wusste, es würde alles ändern.

Dieser Tag sollte schon bald anbrechen. Leda stand an einem Nachmittag plötzlich vor ihr mit einem kleinen Stoffbeutel und einem auffordernden Ausdruck im Gesicht. Sanna löste sich von der Gruppe junger Frauen, der sie gerade die Wirkung eines Heilkrautes erklärt hatte und folgte ihrer Schwester.

Am Rand des Waldes blieb Leda stehen und sah sie ernst an.

„Ich habe lange genug gewartet", schloss sie. „Die Menschen kommen ohne uns zurecht."

„Aber-"

„NEIN SANNA", fuhr ihre Schwester sie an. „Ich möchte nach Hause! Zu Mutter und Vater ... und ..."

„Brunoir", beendete die Jüngere den Satz.

Leda senkte traurig den Blick gen Boden, lächelte aber.

„Ja", sagte sie, „also, lass uns gehen."

„Ich möchte noch bleiben, bitte", flehte Sanna.

Ihre ältere Schwester sah sie mit einer kalten Endgültigkeit an, bevor sie sagte: „Ich werde heute gehen, ob du mich begleitest, oder nicht."

Sanna spürte unwillkürlich, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte gewusst, dass der Tag kommen würde, doch die Worte schmerzten trotzdem unerträglich.

„Also los", befahl Leda. „Nimm deine Sachen und triff mich hier."

Die Tränen der Jüngeren tropften auf den nadelübersäten Boden. Das Schlucken fiel ihr plötzlich schwer und sie brachte keinen Laut heraus.

„Was hast du gesagt?", hakte Leda nach und legte den Kopf schief.

Sanna versammelte all ihre Kräfte und sah zu ihrer Schwester auf.

„Ich ... werde hierbleiben", sagte sie krächzend, „bei Avis."

Die Worte drangen scheinbar nicht sofort in Ledas Geist, denn für einen Moment starrte sie Sanna nur an. Wie vor den Kopf gestoßen und mit einem Mal wurde der Jüngeren bewusst, dass Leda nie davon ausgegangen war, dass Sanna sich wirklich von ihr lösen würde.

Dann wurde der Ausdruck in ihrem Gesicht steif und ihre Mundwinkel zuckten, als sie fragte: „Du ... du willst deinen Stamm, deine Familie und deine Freunde aufgeben? Für ... für ... für einen Menschen?"

Ihr Entsetzen und die Abneigung in ihrer Stimme schnitten tiefer, als es ein Messer je getan hätte.

„Sie haben uns aufgenommen", verteidigte Sanna sich, „wärend unser Stamm-"

„SPRICH ES NICHT AUS!", fuhr Leda sie zornig an. „Es war deine Torheit, die sie dazu brachte!"

„Das ist nicht wahr", widersprach Sanna, „und das weißt du."

„Du verräts deine Sippschaft!", brüllte Leda aufgebracht. „Vielleicht sind sie gar nicht mehr am Leben, doch das interessiert dich vermutlich auch nicht mehr."

„Leda!" Sanna versuchte, die Raserei ihrer Schwester zu besänftigen, doch Leda wollte nicht besänftig werden.

„Wenn du ein Leben mit Menschen deiner Heimat vorziehst, dann tu es doch!"

Sie wandte sich um und Sanna sah noch, wie ein flinkes Reh in der Dunkelheit des Waldes verschwand, dann vernebelten Tränen ihre Sicht. Sie blieb jedoch nicht lange allein. Plötzlich legte sich ein Arm um ihre Schulter und Sanna schmiegte sich trostsuchend an den warmen Körper.

„Folgt ihr", sagte Avis freundlich, aber ernst, „söhnt euch aus. Man sollte nicht im Streit auseinandergehen!"

Sanna schluchzte in den samtenen Stoff seiner Tunika.

„Geht", sprach er eindringlich.

Die Sangotin nickte und löste sich von ihm.

„Ich werde zurückkehren", beschwor Sanna ernst.

Avis lächelte und küsste sie sanft auf die Stirn, bevor er sagte: „Ich hoffe darauf."

Sanna erwiderte dieses liebevolle Lächeln, dann wandte sie sich um und folgte Leda in der Gestalt eines Wolfes.

Die Fährte war schwer wahrzunehmen und Sanna musste sich konzentrieren, um der Spur zu folgen. Der Eigengeruch eines Rehes war selbst für Wölfe kaum wahrnehmbar. Es waren lediglich die Duftstoffe, die sie zur Kommunikation verwendeten, die sie hätte wahrnehmen können. Doch der menschliche Teil in ihr, fand auch die Spuren. Die Gerüche des Waldes waren vertraut und beruhigten Sanna. Je tiefer sie in ihn eindrang, desto gelassener wurde sie. Der Wald war ihre Heimat und das würde immer so sein.

Sanna musste Ledas Spur lange folgen und schließlich vernahm sie das Rauschen eines Baches. Instinktiv lief sie darauf zu und als sie aus dem Schutz der Bäume trat. Erkannte sie ihre Schwester am anderen Ufer.

Vorsichtig ging Sanna den steinigen Abhang hinunter und blieb am Rand des Baches stehen. Das trinkende Reh hob den Kopf und einen Moment lang standen sich Reh und Wolf gegenüber.

Zwei verschiedene Welten und doch die gleichen. Wie die kühle Nachtluft, die während der Dämmerung auf den lebhaften Tag traf.

Erwartungsvoll sahen sie einander an.

Der Wolf hielt die Nase in die Luft und schnupperte.

Die Ricke spitzte die Ohren nach vorne.

Sie verstanden einander auch ohne Worte.

Und im stillen Einverständnis wandte sich das Reh schließlich um und ging mit langsamen, jedoch entschlossenen Schritten tiefer in den Wald.

Die Wölfin sah ihr nach, bis das Wild komplett verschwunden war.

Nicht wissend, dass auch Leda sich bei ihrem Stamm nie wieder heimisch fühlen würde und auch nicht wissend, dass sie sich alsbald erneut auf die Reise machen würde, um zu ihrem wahren zu Hause zurückzukehren: An der Seite ihrer Schwester.


Die Flamme MajorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt