Im Herzen des Waldes

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„Woher will er all das wissen?", sagte Leda an Avis gewandt, als sie sich auf dem Rückweg befanden.

„Er ist ein Seher", erklärte der Mann. „Er kann Dinge sehen, die Geschehen und er sieht Dinge, die Geschehen könnten."

„Und was wird mit uns geschehen?", wollte die Sangotin wissen. „Was wird mit unserem Stamm geschehen?"

Darauf hatte der König keine Antwort.

„Wir müssen sie warnen", beharrte Leda und sah ihre Schwester eindringlich an. „Vielleicht leben sie noch! Vielleicht können wir sie retten?"

„Vielleicht können wir das wirklich", sagte Avis ernst. „Jedoch nicht, indem wir fortlaufen."

„Es gibt kein wir!", fauchte Leda angriffslustig und kam wie eine wütende Hirschkuh auf ihn zu. „Du hast gesagt, wir würden den Weg zu einem Stamm finden!"

„Das konnte er nicht wissen", schaltete Sanna sich ein. „Niemand konnte das wissen."

„Und niemand kann wissen, was mit unserem Stamm ist", schrie Leda laut, „was mit Brunoir ist!" Mit diesen Worten wandte sie sich um und verschwand in der Gestalt einer Füchsin im Wald.

Sanna sah ihr zitternd nach.

Sie konnte ihren Schmerz nachfühlen und auch ihre Angst. Aber was konnten sie noch tun? Sie warf nur einen kurzen Blick zurück zu Avis und folgte ihrer Schwester. Nicht wissend, ob sie wiederkehren würde.

Sie verfolgte die Fährte und bahnte sich einen Weg, durch die Büsche und Sträucher, bis sich der Wald ein wenig lichtete. Ledas Duft lag noch in der Luft. Trotzdem wechselte Sanna ihre Gestalt, um sie besser verfolgen zu können. Als Bache nahm sie Gerüche viel intensiver wahr. Auch der verfliegende Geruch der Ælfen war in dieser Gestalt noch deutlich wahrnehmbar. Sanna überquerte eine kleine Waldwiese. Die Sonne war bereits untergegangen und die Sangotin sah immer schlechter. Doch sie brauchte ihre Augen nicht, da sie der Geruch-, Hör- und Tastsinn leiteten. In der Nähe plätscherte ein Bach und der Wind wiegte die großen alten Bäume rhythmisch zu den Liedern der Nachtigallen.

Sanna suchte sich den Weg mit dem Rüssel auf dem Boden. Im hohen Gras scheuchte sie die Nachtfalter auf, die sich tanzend in die milde Abendluft erhoben. Dann wurde Ledas Duft intensiver und als sie am Ufer eines schmalen Baches ankam, entdeckte sie ihre Schwester auch schon.

Sie saß auf einem kleinen Felsen und drehte die große metallene Münze in ihrer Hand. Der Anblick ihrer trauernden älteren Schwester verstärkte ihre eigenen Ängste nur noch. Leda war stets ihr Halt gewesen, ihr Leittier. Sie nun so verletzlich zu sehen brachte ihren eigenen Schmerz, ihre Sehnsucht und das Verlangen nach Trost und Geborgenheit an die Oberfläche.

Als Bache übersprang sie einen dünnen Baumstamm und nahm schließlich wieder ihre natürliche Gestalt an und hockte sich zu ihr.

Leda ignorierte Sanna.

Schweigend saßen sie da, jede von ihnen in ihre eigene Trauer gehüllt. Doch brauchten sie keine Worte, um einander zu verstehen.

Ledas Augen wurden trüb und wässrig. Dieser Anblick und Sannas Hilflosigkeit belasteten sie so sehr, dass sie einfach nur den Blick gen Boden richtete.

„Manchmal frage ich mich, ob unser Leben überhaupt noch lebenswert ist", sprach Leda plötzlich leise. „Wir haben keine Heimat mehr, keine Zukunft und wenn das stimmt, was der alte Mann sagt ... Dann haben wir auch kein Volk mehr ... Ich ... ich weiß nicht, was wir tun sollen ..."

Tränen tropften in ihren Schoß. Sanna wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und schwieg.

„Ich hatte gehofft", fuhr Leda fort, „dass der andere Stamm uns aufnehmen würde. Dass Brunoir irgendwann zurückkehren würde. Und nun ist alles verloren. Brunoir, meine Familie, meine Freunde, meine Herkunft, einfach alles. Ich bin so alleine, so hilflos und es gibt keine Hoffnung mehr.

Diese Worte schnitten Sanna tiefer in die Brust, als es ein Messer hätte tun können.

„Aber ...", flüsterte sie mit erstickter Stimme, „du hast mich ..."

Leda drückte weitere Tränen durch ihre Lieder hindurch. Ihre Kiefer waren fest aufeinandergedrückt.

„Ich habe dich ...", wiederholte sie, „die uns erst in diese Lage brachte, um die ich mich ständig kümmern muss, dich trösten, dich versorgen ... ja, Sanna, ich habe dich ... und manchmal wäre ich froh, du würdest auf eigenen Beinen stehen!"

„Sag' so etwas nicht!", flehte Sanna.

Ihre Schwester bedachte sie mit einem zornigen Blick, der sie in sich zusammensinken ließ.

„Warum?", fragte sie ernst. „Weil du es nicht hören willst? Weil du immer weiter geführt werden willst?"

„Leda, bitte, du bist nur traurig ..."

„ICH BIN VERZWEIFELT!", schrie diese sie an und erhob sich von dem Felsen. „Ich habe die Grenzen meines Reviers erreicht und ich weiß nicht mehr weiter, Sanna. Und du kommst zu mir und erwartest, dass ich alles in Ordnung bringe – selbst die Fehler, die du gemacht hast."

Geschockt sah Sanna zu ihrer Schwester auf. Die einzige Person, die ihr seit der Verbannung noch geblieben war. Die Person, die ihr ein Leben lang Rückhalt gegeben hatte.

Nie hatte Sanna an ihrer Verbindung gezweifelt, sie hatte geglaubt, sie würde für immer währen. Bis zu jenem Tag, als Brunoir ihren Stamm aufgesucht hatte. Sanna hatte sich dieser Bedrohung gestellt, um zu verhindern, dass er Leda mitnahm und ihre Schwester für immer aus ihrem Leben verschwinden würden. Doch schließlich hatte Brunoir sich dazu entschieden, zu bleiben und Sanna konnte ihn als einen Teil ihres Stammes akzeptieren.

Nun wurde ihr bewusst, dass damals der Samen gepflanzt wurde, deren Frucht sie für immer trennen sollte.

Der Schmerz in ihrer Brust wurde unerträglich. Die Sicht war plötzlich vernebelt. Hilfesuchend erhob sie sich und taumelte Leda entgegen, doch ihre Schwester wies sie ab.

Die Stimme so energisch, wie die einer Katzenmutter, die ihr Junges fortjagte, um es zur Selbstständigkeit anzutreiben.

„Geh!"

Sanna flehte sie an.

„GEH!", schrie Leda und machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu.

Sanna wich ihr mit Leichtigkeit aus, aber dieses Zeichen durchtrennte den letzten dünnen Faden des einst starken Bandes, das die beiden Frauen verbunden hatte. Schließlich wandte sie sich um und lief fort.

Sie konnte ihren Weg nicht sehen, weil die Tränen ihr die Sicht vernebelten. Das Unterholz, durch das sie stolperte, riss an ihren Haaren, zerkratzte ihr Gesicht, doch Sanna spürte es nicht. Sie spürte nichts außer dem Schmerz in ihrem Inneren. Die körperlichen Verletzungen waren viel leichter zu ertragen, als die Wunde, die ihr Leda zugefügt hatte. Sie lief davon und hoffte, dass ihr Leid endlich gelindert wurde.

Dann stolperte sie über einen am Boden liegenden Ast, durch ihre schnellen Reflexe konnte sie sich jedoch rechtzeitig auffangen. Das ließ sie einen Moment innehalten und schließlich sank die Sangotin schluchzend auf die Knie. Vergrub ihr Gesicht in den Händen und weinte.

Weinte wegen der Wunden, die ihre Schwester mit Worte geschlagen hatten, weinte wegen des Kummers, den sie all die Wochen quälte und weinte auch wegen ihres Heimwehs.

Die innere Verbundenheit mit ihrer Schwester war gestört. Das Band das sie verband gerissen.

Nun war sie alleine.

Zum ersten Mal in ihrem Leben.

Leda hatte eine große leere Stelle in ihrem Herzen hinterlassen. Einen kahlen einsamen Ort und dieser Platz war nun frei, um eine andere Person darin aufzunehmen.

„Sanna?"

Es war eine vertraute Stimme, doch die Sangotin hatte noch nie diese Behutsamkeit darin gehört. Die Berührung an ihrer rechten Schulter ließ sie aufsehen.

„Was ist geschehen?", fragte Avis besorgt und kniete sich zu ihr auf den Boden.

Und ohne zu verstehen, was in ihr vorging, warf Sanna sich in seine Arme und fand bei ihm den Trost, den ihr Leda verwehrt hat.


Die Flamme MajorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt