Nicht allein

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Über mir passierte irgendetwas.

Eine Tür wurde aufgestoßen und jemand brüllte aus Leibeskräften. Eine Frau, oder besser gesagt ein Mädchen. Und nicht nur das.

Zwischen ihren verzweifelten Schreien und Hilferufen hörte ich noch eine weitere Stimme. Die eines zweiten Mädchens. Doch sie schrie nicht. Ich vernahm nur ihr leises Schluchzen. Sie weinte und schien leise zu beten. Oder zu betteln. Wie ein Mantra, dass sie nicht unterbrechen durfte.

Dann wurde die Tür unter dem wütenden Geschrei unseres Entführers zugeschlagen und es herrschte wieder Totenstille.

Doch die wenigen Sekunden hatten genügt.

Etwas hatte sich geändert.

Langsam kippte ich meine geöffnete Hand und der schmutzige Sand rieselte zurück auf den Boden.

Er hatte nicht nur mich entführt. Dort oben quälte er noch mindestens zwei andere Mädchen, die sich nicht befreien konnten. Dort oben kämpften noch zwei weitere Mädchen um ihr Leben. Sie hatten genauso viel Angst, wie ich. Sie litten, aufgrund ihrer Schreie, wahrscheinlich unter viel größeren Schmerzen als ich.

Und sie hatten auch irgendwo eine Familie, die sich um sie sorgte und zu der sie um alles in der Welt zurückwollten.

Sie hatten Träume, Wünsche und Pläne für ihr Leben.

Wie ich.

Sie waren hier aufgewacht. Allein. Schmutzig. Blutend.

Wie ich.

Ich ballte meine Hände und atmete konzentriert ein und aus. Dann wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und blickte erneut Richtung des einzigen Ausgangs aus diesem Raum.

Es hatte sich nicht viel gebessert. Der Fluchtweg war immer noch zu weit weg und ich saß immer noch in meinem massiven Käfig.

Und doch hatte sich alles geändert.

Ich spürte, wie mein Überlebenswille wieder erwachte. Ganz sacht, wie ein Vogeljunges, dass sich langsam aus seinem Ei befreit. Aber beständig und in eine Richtung bewegend.

Nach vorn.

Mit der Kraft, die ich aufbringen konnte, schleuderte ich mit dem gesunden Arm eine handvoll Sand in die Luft. Die größeren Sandkörner fielen zu Boden, doch der feine Staub zog langsam in die rechte, hintere Ecke des Kellerraumes. Gegenüber der Tür, durch die er vorhin gegangen ist.

Auch, dieses Kellerloch, benötigte eine gewisse Klimatisierung. Auch ein fensterloses Gefängnis, wie dieses, brauchte einen Lüftungsschacht, um nicht vorschnell zu verrotten. Und sei er noch so klein.

Ich scannte mit den Augen alles noch einmal genau ab und prägte mir die Raumbedingungen ein. Wenn er mich umquartieren wollte, musste ich mich konzentrieren. Ich durfte mich nicht von Angst und Hilflosigkeit lenken lassen. Die Angst musste weichen.

Sie musste einem anderen Gefühl Platz machen. Einem Gefühl, dass mir einen Weg nach draußen ermöglichen würde.

Einem Gefühl, das Kraft gab und nicht nahm.

Ich schloss die Augen ...

Dachte an das, was er mir bereits genommen hatte und an das, was er mir noch nehmen würde, wenn ich blieb.

Und hatte mein Gefühl gefunden.

Wut.

Ich würde mit diesen beiden Mädchen, wer auch immer sie waren und wo auch immer sie herkamen, hier rauskommen.

Ich würde kämpfen! Und nicht aufgeben.

Ich würde mich nicht beugen. Sondern überleben. Um jeden Preis. Irgendwie.

Und zum ersten Mal, seit dem ich hier aufgewacht war, fühlte ich mich auch im Stande dazu.

Denn ich war nicht allein.

wild swallow #1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt