Prolog: Tatinnes Vorhersehung

73 19 24
                                    

Wenn die erbrachten Opfer eines anderen Menschen einen selbst schmerzen, sind es dann auch eigen erbrachte Opfer? Und wenn die erbrachten Leiden eine neue Welt schöpfen, ist man dann ein Leidtragender oder ein Schöpfer?

Tatinne, auch genannt die Spinne, die inoffizielle Herrscherin des neutralen Stadtteils von Calisteo, saß noch immer am Küchentisch ihrer Küche und wunderte sich aufs Neue. Die dunkle Marmoroberfläche der Tischplatte spiegelte das durch das Fenster einfallende Mondlicht und die Schemen ihrer grünen Augen wider, von denen sie wusste, sie starrten gelangweilt zurück. Ein Ausdruck, der schon lange nicht von ihrem Gesicht wich. Tatinne fuhr mit dem Finger über die kalte, glatte Oberfläche, versuchte ihre Augen wegzuwischen, aber es gelang ihr nicht. Sie nippte dann an ihrem Kaffee, ein Luxus, den sich nahezu niemand leisten konnte und den sie nicht mehr würdigte. Dabei hatte sie die schokoladige Note einst geliebt. Die Zeit nahm jegliche Freude.

Und die nächsten Generationen müssen die Freude noch früher abgeben.

Eine Ahnung regte sich in ihr wie eine Vorwarnung, welche sie zum Handeln drängte. Ein Besucher kam.

Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter und sie verzog das Gesicht, denn sie wusste, worauf das hinauslief. Es konnte sich nur um einen von den Dreien handeln, welche es sich erlauben konnten, ohne Vorwarnung bei ihr aufzutauchen. Einer von den jungen Herrschern. Ein schwerer Seufzer verließ ihren mit rotem Lippenstift perfekt verzierten Mund.

Tatinne kippte den Kaffee ins Spülbecken. Dann sah sie noch einmal auf die Fotographie von ihr und ihrer Nichte, legte eine Hand auf ihr Herz und versuchte den schmerzenden Stich auszuatmen. Der hölzerne Bilderrahmen fühlte sich kalt auf ihren brennenden Fingern an. Ihr war nicht aufgefallen, dass sie sich an der Tasse verbrannt hatte. Weder sie noch das kleine Mädchen lächelten in die Kamera. Sie sahen reich und mächtig aus und Tatinne presste die Lippen zusammen, als sie an ihre glorreiche Familie dachte. Mit einem Klacken lag der Bilderrahmen wieder am Tisch.

Tatinne ging hinunter, bereit ihn unten abzufangen.

Sie öffnete die schwere Tür zu ihrem dramatisch dekorierten Empfangszimmer. Der Raum war eine Mischung aus roten Möbeln mit dunklem Ebenholz und vergoldeten Verzierungen. Es war kein echtes Gold, das war zu wertvoll, selbst für sie. Messing tat sein Bestes. Die Wände waren schwarz und doch sorgten die im Raum verteilten kleinen Lampen für angenehmes Licht. Es war eine Theaterbühne, ausgestattet mit allem, was nötig war, um die Besucher zu beeindrucken. Oder um sie einzuschüchtern, wie auch dieses Kind es vor einem Jahr gewesen war, als es verloren und verunsichert an ihrer Türschwelle gestanden hatte.

Leidtragender oder Schöpfer? Oder Anstifter eines weiteren Kampfes?, fragte sie sich, als ihre Abneigung ihm gegenüber in ihr hochstieg. Von allen drei Herrschern der drei Provinzen von Calisteo, war er der mit Abstand nervigste.

Und obwohl sie ihn unausstehlich fand, gab es diesen leisen Funken von Anerkennung und Respekt in ihr. Es war sonderbar gewesen, eines Morgens aufzuwachsen und festzustellen, dass die Zweite der drei Provinzen der Stadt Calisteo in die Hände eines siebzehnjährigen Kindes gefallen war. Das hatte sie damals nicht vorhergesehen. Und dieses Kind hatte sich seit über einem Jahr bewährt und war nicht gestorben, als andere versucht haben, ihm seine Macht über die zweite Provinz zu stehlen.

Leidtragender oder Schöpfer? Und wieso musste sie den Preis tragen?

„Was ist passiert", fragte er lachend, als er die Tür öffnete und sie entdeckte, „dass ausgerechnet du freiwillig hier herunterkommst? Bin ich kurz vor Ende wichtig genug geworden, um von dir empfangen zu werden?"

Raffael fuhr sich mit der Hand über die leicht nassen, langen Haarsträhnen, wischte sie von seinem Gesicht und zeigte ihr sein freches Grinsen. Ein Schauspiel, welches er in den letzten Monaten verinnerlicht hat. Tatinne konnte dabei nur die Augen verdrehen, denn sie sah zu deutlich, wie die Nervosität in seinen Augen sich verriet.

Calisteo - Stadt der GeisterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt