Etienne saß leise im Schatten der hintersten Ecke der obersten Reihe der Halle. Ihre dunkle Kleidung erlaubte es ihr, unentdeckt zu bleiben und die weißen Streifen der Uniform hatte sie mit der dunklen, schicken Jacke bedeckt, welche Tatinne ihr ausgeliehen hatte. Gilgian hatte ihr am Vorabend den Tipp gegeben, nachdem sie und Meta ihn so lange genervt hatten, bis er sich zu etwas mehr hat hinreißen lassen, als ihr nur leere Ermutigungen zu geben... oder eine falsche Uhrzeit, denn sie wartet nun schon seit über einer Stunde.
Es war noch dunkel draußen und es fiel nur spärlich Licht in den Raum. Die Tage waren kürzer und grauer geworden. Und so gab ihr vor allem diese Ecke, welche in der Nähe einer Tür war, eine gute Deckung, um nicht von Halil entdeckt zu werden. Sie war durch die hinteren Gänge hineingekommen und hatte ihre warme Jacke vermisst. Die von Tatinne war hübsch, aber nicht sehr warm. Etienne hatte sich seltsam gefühlt, sie anzuziehen. Sie hatte noch nie eine schöne Jacke gehabt und manchmal war sie neidisch auf Tatinnes Kleiderschrank.
Etienne hatte Catjill bei Tatinne gelassen. Das würde sie für ein paar Tage so handhaben, einfach nur, damit er durch seine passive Magie etwas in Vergessenheit geriet. Sie hätte ihn gebrauchen können, um in die Halle zu kommen. Stattdessen hatte sie sich den Schlüssel des Hausmeisters besorgt. Nachdem sie die Tür geöffnet hatte, hat sie ihn anschließend unbemerkt zurückgegeben. Der Mann hatte geschlafen, war wohl die ganze Nacht an der Schule gewesen. Auch diese Information hatte sie indirekt von Gilgian bekommen. Und nachdem sie sich ihren Platz herausgesucht hatte, hat sie gewartet. Ab und zu hatte sie Schritte an der Treppe hinter der Tür vernommen, welche jedoch nicht in die Halle gegangen sind. Das hatte sie dazu ermuntert, sich etwas weiter von der Tür wegzusetzen, damit sie nicht direkt entdeckt werden würde, wenn jemand sich doch dazu entschloss hineinzugehen. Nach über einer Stunde, gegen sechs, war Halil in die Halle getreten. Er hatte fürchterlich wütend ausgesehen. Sie hat ihn dabei beobachtet, wie er einige Matten ausgelegt hatte. Dann hatte sie ihm dabei zugeschaut, wie er sich aufgewärmt hatte. Seine Wut schien nach und nach verschwunden worden zu sein und nach dem Aufwärmen war er dazu übergegangen die Übungen durchzuführen, die er laut Gilgian scheinbar jeden Morgen übte.
Sie hatte am Abend des Vortages festgestellt, dass er versucht hatte, sie abzufangen. Wie Scarlett vorhergesehen hatte, schien er es nicht gutzuheißen, dass sie sich zwischen ihn und Anaki gestellt hatte. Also hatte sie sich schnell dazu entschieden, dem Ganzen nach Möglichkeit ein schnelles Ende zu bereiten. Und dafür hatte sie sich zunächst vorgenommen herauszufinden, was er alles konnte und vor allem, was er nicht konnte. Er war, wie sie bereits wusste, sehr schnell. Etienne konnte auch die Kraft hinter seinen Tritten und Schlägen vermuten. Sie hatte aber auch schnell festgestellt, dass er sehr streng den Bewegungen folgte, die ihm beigebracht worden sind. Sobald er einen Fehler machte, wiederholte er die Bewegung mehrmals und fing dann mit seiner Routine von vorne an. Sie stellte die Vermutung auf, dass er nicht sehr kreativ war. Er würde vielleicht nicht flexibel auf Figuren außerhalb seines Könnens reagieren. Etienne fragte sich, ob er welche außerhalb seines Gebietes überhaupt kannte. Doch so verbissen er an einigen von denen zu arbeiten schien, die sie bereits auch schon kennengelernt hatte, glaubte sie das nicht. Etienne war bei weitem kein Experte in diesem Gebiet. Aber sie kannte sich gut genug darin aus, um herauszufinden, wie sie jemanden besiegen konnte, der stärker war als sie. Und nach und nach beschlich sie das Gefühl, dass sie bei ihm keine Probleme haben würde.
Und desto mehr sie ihn dabei beobachtete, wie er schnell und gezielt, aber stumpf die gleichen Bewegungen immer und immer wieder durchführte, desto leichter fiel es ihr, weitere Schwächen auszumachen. Er war etwas schwächer auf seinem linken Bein. Sein Gleichgewicht war bei manchen Bewegungen nicht sicher. Er schlug besonders gerne mit der rechten Faust zu. Irgendwann hatte sie das Gefühl, sie würde seine ersten Schritte sehr gut kennen. Blieb abzuwarten wie er sich in einem Zweierkampf schlagen würde. Und nachdem eine Stunde vergangen war, sah sie weitere Mitglieder des Karateclubs die Halle betreten. Sie unterhielt sich mit ihm und nun konnte Etienne eine andere Seite an ihm beobachten. Ihnen gegenüber war er nett. Hörte aufmerksam zu, wenn sie ihm etwas sagten. Als sie miteinander trainierten, nahm er sich die Zeit ihnen zu helfen, ihre Stellungen zu korrigieren. Er benahm sich ihnen gegenüber professionell, sie witzelten sogar gemeinsam. Als er dann anschließend an einem Zweierkampf teilnahm, konnte Etienne zufrieden feststellen, dass auch hier seine Bewegungen vorhersehbar waren. Er war etwas dynamischer als bei seiner Routine. Doch auch hier verwendete er nur eine Handvoll von verschiedenen Angriffen, die sie alle bereits kannte.
Sie hörte weitere Schritte durch die Gänge hinter ihr. Menschen trudelten in die Schule ein. Einmal trat jemand durch die Tür und Etienne entdeckte ein paar Mädchen, welche sich nach ganz vorne setzten und das Training beobachteten. Perfekt für sie, denn sie würden die Aufmerksamkeit auf sich lenken und somit weg von Etienne. Etienne vernahm, wie Halil sie grüßte und sie kicherten.
Eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn, verschwanden sie alle durch die Tür, welche aus der Halle führte und Etienne rührte sich nicht, als die Mädchen durch dieselbe Tür verschwanden, durch die Etienne gekommen war. Sie sprachen ganz aufgeregt über ein Ereignis an der Schule und verschwanden, ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken.
Etienne blieb noch etwas sitzen. Nahm sich Zeit, bevor sie in ihre Klassen gehen würde. Bis dahin überlegte sie sich, wie sie ihm für heute am besten aus dem Weg gehen sollte. Am Abend würde er noch mal trainieren. Sie würde erneut die Schatten dieser Ecke nutzen, um ihm dabei zuzuschauen. Und morgen früh, wenn keiner da wäre, würde sie ihn konfrontieren und ihm eine Wette vorschlagen. So arrogant wie er schien, würde er sie sicherlich annehmen. Das wäre die beste Möglichkeit dafür zu sorgen, dass er ihr vom Hals blieb, damit sie in Ruhe den Kontakt zu Meng und Elias suchen konnte.
Sie schloss die Augen und sortierte in ihrem Kopf das Wissen, dass sie über Halils Fähigkeiten erlangt hatte. Noch mehr Schritte drangen aus dem Treppenhaus zu ihr durch. Sie hörte Geräusche von der Halle zu ihr empor dringen und öffnete leicht die Augen. Ein Mann putzte den Boden. Sie schloss sie wieder und dachte weiter nach. Was wäre der beste Wetteinsatz? Sie könnte sich wünschen, dass er sie für die Dauer ihres Aufenthalts in Ruhe ließ. Aber sie würde etwas höher setzen. Niemals würde er erwarten, dass sie ihn besiegen würde. Sie hatte ihren Djinn genutzt, um sich zu schützen und dieser hatte Eindruck hinterlassen. Hinter ihm sah sie aus, wie ein schmähliches kleines Mädchen. Also sollte sie sich etwas mehr herausnehmen. Sie könnte sich überlegen, ob es Informationen gab, die sie von ihm bekommen könnte. Aber so, wie die Beziehung zwischen ihm und den anderen Mitschülern schien, glaubte sie nicht, dass er ihr etwas Nützliches geben konnte.
Die Schritte, die sie vernahm, endeten vor der Tür und Etienne drückte sich wieder tiefer in den Sitz, als die Tür geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Ihre Gedanken wanderten zu Anaki. Sie unterdrückte ein Seufzen. Es war offensichtlich, wonach sie fragen sollte.
„Na wenn du nicht aussieht, als würdest du eine Lebenskrise durchmachen. Bist du nicht zu alt für einsame Momente in der Dunkelheit?"
Ihr Kopf fuhr herum und sie sah Raffael, welcher auf sie zuging. Für einen Moment war es still in ihrem Kopf, als der Schock sie übernahm. Dann rasten die Gedanken. Sie konnte es nicht fassen, dass er hier war, denn es gab nichts, was auch nur ansatzweise darauf deuten ließ, dass sie sich hier befand.
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Calisteo - Stadt der Geister
FantasyUmgeben von Meer und Wüste steht in einem Fleck von Grün die kleine Stadt Calisteo. Sie ist ein Zufluchtsort für Reisende, scheinbar friedlich und unwichtig, fernab all des Chaos der Neuen Welt. Der fragile Frieden der Stadt wird durch eine Vorhers...