Ich sitze in meinem Bett, wie öfters in den letzten Tagen, nein, Wochen. Es ist schon spät, mindestens 10 Uhr, ich kann aber nicht aufstehen. Es fühlt sich alles so unnötig an. Zwei Monate war alles anders. Vor zwei Monaten konnte ich noch Fußball spielen, zum Beispiel. Vor zwei Monaten war ich noch bei der Natio. Vor zwei Monaten habe ich sie noch gesehen. Und jetzt bin ich hier, in meinem Bett, in der WG, die ich mir mit Jovi teile. Ich schaue auf die Uhr, ich weiß, dass ich eigentlich gleich los muss, das heißt, ich muss mich vorbereiten, aber ich habe keinen Bock, jetzt aufzustehen, wozu auch? Es kann doch allen egal sein, was ich von meinen Tage mache, ich kann eh nicht das einzige machen, wofür ich gut bin. Das erste Mal, dass ich mir das Kreuzband gerissen habe, hatte ich die Motivation, jeden Tag aufzustehen. Dieses Mal ist es anders. Wäre es leicht, wenn ich mich nicht in sie verliebt hätte? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass ich seit Monaten jedes Mal auf die Natio Zeit warte, um sie zu sehen, und das kann ich jetzt für eine ganze Weile vergessen. Es kann ein ganzes Jahr dauern, bis ich wieder nominiert werde, vielleicht auch mehr, ich muss an Caro denken. Vielleicht bin ich ihr ja auch egal, wahrscheinlich sogar.
Jemand klopft an meine Tür, ich antworte nicht. Vielleicht geht die Person ja weg, wenn ich so tue, als wäre ich nicht da. Aber nein, Jovi, weil natürlich ist es sie, stürmt in mein Zimmer.
- Schon mal was von Privatsphäre gehört? brummte ich.
- Giuli, was machst du noch da?
- Nichts, siehst du doch.
- Du musst aufstehen, du hast in einer Stunde Reha!
- Na und?
- Giulia Gwinn, du stehst jetzt auf und ziehst dich an!
- Warum bist du so? sage ich genervt.
Ich stand aber auf und humpelte durch das Zimmer, um meine Sachen zu suchen. Jovi hilft mir, wie sie kann.
- Ich habe jemanden versprochen, auf dich aufzupassen, solange sie es nicht kann.
- Meine Mutter? Sie wohnt doch zehn Minuten entfernt…
- Nicht deine Mutter, Merle!
- Wie, Merle?
- Merle, die Deutsche Torhüterin, blonde Haare, blaue Augen, groß, von wem du andauernd redest?
- Ich weiß, wer Merle ist und wie sie auszieht…
- Kein Wunder, so wie du sie immer anstarrst!
- Aber warum hast du ihr versprochen, auf mich aufzupassen?
- Weil sie mich darum gebeten hat, du Idiot.
Wir gingen raus zum Auto.
- Warum…
- Man, Giuli, hör auf, doofe Fragen zu stellen, wir sind nicht alle so blind wie du.
- Kein aber, du gehst jetzt zur Reha und versuchst, so schnell wie möglich wieder fit zu sein.
- Und wegen Merle?
- Kannst du ihr selber fragen, wir spielen nächste Woche gegen Wolfsburg, Heimspiel, das heißt, sie wird hier sein. Ich habe dem Trainer schon gesagt, dass du zum Spiel kommst.
- Du bist unmöglich…
- Irgendwer muss dir ja helfen.
Ich rollte innerlich die Augen.Heute ist das Spiel gegen Wolfsburg. Ich hoffe natürlich, dass wir gewinnen, will aber gleichzeitig nicht, dass wir zu viele Tore schießen, sonst wird Merle sauer auf sich selbst sein, und das kann ich nicht mit ansehen. Sie ist immer so streng mit sich selbst… Das hasse ich. Ich glaube, jetzt ist es schon ziemlich klar geworden, sie ist Merle Frohms. Wir sind uns letztes Jahr, im Frühling, sehr nahe gekommen, und seit Mai verliebe ich mich jeden Tag mehr in ihr und Ihrem Lächeln. Ich dachte, dass es mit meiner Verletzung vielleicht verschwinden würde, das tat es aber nicht, und jetzt steht sie auf dem Platz, nur ein paar Metern von mir entfernt. Sie winkt mir zu, als sie auf das Tor zuläuft. Ich hätte schon beim aufwärmen kommen sollen, dann wäre sie auf mich zugekommen, sie hätte gefragt, wie es mir geht, ich hätte natürlich gelogen, dann hätte ich ihr lachend viel Glück gewünscht und sie wäre sich aufwärmen gegangen. Aber nein, ich wollte nicht mit ihr reden, ich hatte einfach keinen Mut dazu, und jetzt bereue ich es.
Das Spiel endete 0:0, die Mädels sind enttäuscht, aber, ins Geheim bin ich froh. Ich stehe auf und gehe zu den anderen, ich drücke ein paar Mädchen aus Wolfsburg, Svenja, Feli und Pia. Auch Alex fragt mir, wie die Reha läuft.
- Ganz gut. Ich habe aber irgendwie keinen Bock drauf.
- Verstehe. Das wird schon wieder.
Dann komme ich zu Merle. Sie bleibt kurz vor mir stehen, als wüsste sie nicht, ob sie mich umarmen soll. Ich nehme ihr die Entscheidung weg und drücke sie fest an mich.
- Sorry, ich habe geschwitzt, sagt sie lachend.
- Ist mir gerade ziemlich egal. Wie geht's?
- Ernst jetzt Giuli? Du bist hier verletzt, du hast mir seit zwei Monaten keine einzige Nachricht geschrieben, obwohl ich dir mindestens zehn geschickt habe, und du sagst, wie geht's?
Ich versuche, mich von ihr zu lösen, aber sie hält mich einfach fest.
- Jetzt lasse ich dich nie mehr los, nuschelt sie und ich muss gegen ihren Hals lächeln. Wie geht es dir?
- Ich…
Ich will sagen “mir geht es gut” aber die Worte bleiben in meinem Hals stecken.
- Mir geht es besser. Und jetzt noch mehr, weil du da bist. Wann muss du weg? Willst du noch zu mir kommen? Ich koche heute Abend, und Jovi geht raus.
- Wenn du so nett fragst! Ich muss mich nur umziehen. Weiß du was, komm einfach mit, du kennst ja fast alle aus Wolfsburg, das stört schon keinen.
- Du hast mir nich geantwortet, sage ich, als wir rein gehen.
- Worauf?
- Wie es dir geht und wie lange du bleibst.
- Ich muss morgen zurück. Und mir geht es passabel. Besser, weil ich mit dir bin.
Sie zwinkert mir zu.
- Wie kommst du morgen zurück nach Wolfsburg?
- Unser Bus fährt morgen.
- Und…
- Hör auf, Fragen zu stellen, es wird alles verlaufen, wie es verlaufen muss.
Ich fühle, wir meine Wangen rot werden.Ich sitze neben Merle auf der Couch. Wir schauen irgendeinen Film, aber, um ehrlich zu sein, weiß ich nicht mal wovon es handelt.
- Du weißt schon, dass das Bildschirm vorne ist, sagt mir die blonde Torhüterin.
- Das ist nur halb so interessant wie die Person neben mir.
Merle wird Knallrot. Sie beugt sich auf mich zu und drückt mir einen Kuss auf die Lippen. Ich bin kurz geschockt, da rückt sie schon weg.
- Sorry, ich wollte nicht…
- Halt die Klappe.
Ich rücke zu ihr näher und küsse sie ein weiteres Mal. Ich spüre, wie sie lächelt. Ich will meine Hände auf sie spüren, da drückt sie mich weg.
- Ich muss dieses Mal Sorry sagen. Ich will dich nicht bedrängen.
- Tust du auch nicht. Ich will es genauso wie du. Aber du weißt schon, dass wir uns jetzt mehrere Monaten nicht sehen werden? Ich will nicht, dass es danach komisch zwischen uns ist. Ich will auch nicht, dass es was einmaliges wird.
- Gut. Ich nämlich auch nicht.
- Wir könnten abwarten.
- Bis wann?
- Bis du zurück von deine Verletzung bist. Damit du dir auch sicher bist.
- Ich bin mich jetzt schon ziemlich sicher. Ich habe mich in dich verliebt.
Es rutscht aus mir heraus, ohne, dass ich es verhindern kann, und Merle guckt mich ungläubig an.
- Gut. Ich mich nämlich auch in dich.
Sie strahlt mich an, und ich muss warscheinlich genauso aussehen.
- Was hältst du dann von Kuscheln und diesen Film wieder vom Anfang zu starten?
- Klingt gut, antworte ich leise.
Sie rutscht zu mir und ich lege meinen Kopf auf ihre Brust. Sie drückt mir nich einen Kuss auf die Stirn, bevor sie den Film wieder startet.
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