Kapitel 10 - Erpresst

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[Trigger Warnung: Thematisierung von Suizid und Straftaten]

Hektisch warf Mya die Tür hinter sich zu und riss sich die Lederjacke vom Körper, als stünde sie in Flammen, während sie nach der Rose griff, die die Heimfahrt besser weggesteckt hatte, als erwartet. Trotzdem landete sie in einem blinden Wurf achtlos auf dem Bett neben der Jacke, nachdem Mya mit zitternden Händen das Gummiband samt Zettel vom Stil der Blume gerollt hatte. Sie war ihr egal. Die Nachrichten, die sie unterwegs empfangen hatte, ebenso. Sie wollte einfach nur wissen, welches irrsinnige Rätsel man ihr diesmal aufgetragen hatte.
Fahrig faltete sie das lädierte Stück Papier auseinander, wobei ihr gesamter Verstand in eine Art Tunnelblick verfiel, der die Sekunden des Öffnens wie in einzelnen Bildern wahrnahm und analysierte. Jede einzelne Linie, jede Form, die sich nach und nach auf dem Zettelchen präsentierte, rief neue Fragen in ihrem schmerzenden Kopf hervor.
War es wieder eine Nachricht?
Ein Symbol?
Eine Zeichnung?
Nein.
Mya atmete beinahe erleichtert aus, als sie erkannte, was den neuen Hinweis darstellte. Eine quadratische Form mit kleineren Quadraten in drei der Ecken und wirren, pixelartigen Mustern dazwischen.
Ein QR-Code.
Ein einfacher QR-Code.
Sie hatte mit so einigem gerechnet, aber nicht damit. Einen verdammten QR-Code einzuscannen schien im Anbetracht der vorigen beiden Rätsel zu einfach, um wahr zu sein. Einige Sekunden lang starrte Mya den Zettel in ihrer Hand einfach nur an. Es war ganz einfach. Sie musste nur ihr Handy in die Hand nehmen und den Code einscannen. Nichts weiter. Handy. Scannen. Fertig.
Wie von einer Welle weggespült verlor das Adrenalin in ihrem Blut schlagartig jede Kontrolle über ihren Körper. Sie fühlte sich mit einem mal ganz ruhig, wenngleich das Zittern ihrer Hände einfach nicht nachlassen wollte, und sie ließ sich langsam, ohne den Blick von dem Code abzuwenden, auf den Stuhl am Schreibtisch sinken. Es war nicht die angenehme Art der Ruhe, die Mya überkam, wie etwa der Moment nach einer bestandenen Prüfung, die sie eigentlich erwartet hatte. Ihre Hand fühlte sich schwer an, senkte sich immer weiter ab, bis sie in ihrem Schoß zu liegen kam. Alles fühlte sich schwer an. Ihre Beine. Ihr Kopf. Ihr Brustkorb. Ihr Verstand. Schwer und taub.
Es war ein ihr nur allzu bekanntes Gefühl, diese stille Panik, die ihr die Luft aus den Lungen und jeden Gedanken aus dem Kopf presste. Sie konnte sich nicht erklären, woher sie kam, die Angst vor dem Inhalt, der durch das pixelige Muster verschlüsselt wurde, wo sie doch vor einer halben Stunde noch Feuer und Flamme dafür gewesen war, jedes Rätsel, das man ihr auftischte, zu lösen und Antworten zu erhalten. Es war, als wüsste ihr Unterbewusstsein, was der Grund dafür war und wollte es einfach nicht ausspucken, um sie davor zu schützen.
Mya schloss die Augen und atmete tief ein und aus, während ihre freie Hand den Ring an ihrer Halskette sanft griff. Viel zu lange hatte sie Angst, Schmerz und Frust von sich weggeschoben und gebracht hatte es ihr nichts außer weiteren Problemen. Es war das ewig selbe Thema, seit Jahren. Und sie hatte sich versprochen, damit aufzuhören. Aufzuhören, Angst vor der Angst zu haben und zu beginnen, sich selbst zuzuhören. Sie wollte es an sich heranlassen, es spüren. Was war es nur, was sie befürchtete?
War es womöglich der unterdrückte Gedanke, dass diese Art des Hinweises Jake nun doch ähnlich sah und sie die Enttäuschung fürchtete, sollte der Inhalt gegen seine Beteiligung sprechen? Fürchtete sie vielleicht etwas über Jake zu erfahren, das das Bild, welches sie sich von ihm gemalt hatte, als völlig naive Wunschvorstellung aufzeigen würde? Oder war es die Angst davor, dass sich hinter diesem Code die letzten Aufnahmen der Überwachungskameras aus der Eisenbruchmine verbargen, die ihr Dinge zeigen würden, die sie niemals sehen wollte, um ihren Willen endgültig zu brechen?
Woher kam diese Annahme überhaupt? Und warum sollte das jemand tun?
Als Mya die Augen wieder öffnete, schien ihr Verstand es ihnen gleich zu tun, denn es war beinahe, als könnte sie physisch spüren, wie ihr eben noch stockender Gedankenfluss wieder in Gang kam. Es war ein erschreckender Augenblick, in dem sie das erste Mal bewusst feststellte, wie sehr die vergangenen Wochen, aber ganz besonders die Tage seit Hannahs Befreiung, ihr gesamtes Denken beeinflusst hatten - und das definitiv auf keine gute Art und Weise. War sie vor kurzem noch diejenige gewesen, die den Überblick über alle objektiven Tatsachen in einem Chaos aus Spekulationen und Befürchtungen behalten hatte, so saß nun sie in ihrem Hotelzimmer und sah Horrorfilme in einem Stück Papier mit aufgedruckten schwarzen Kästchen. Unter anderen Umständen hätte sie das nun als lächerlich bezeichnet, aber in ihrem Kontext brachte es sie eher dazu, darüber nachzudenken, ob das nur ein vorübergehender Zustand als Reaktion auf den Schlafmangel und die ständige Anspannung der letzten Zeit war, oder ob sich ihr ein neuer Anlass zeigte, sich professionelle Hilfe zu suchen. Doch selbst wenn Letzteres zutraf, würde das wohl noch ein bisschen warten müssen. Seufzend richtete Mya sich auf, verstand mit einem Mal ihre plötzliche Panik von eben nicht mehr, und zog das Handy aus ihrer Umhängetasche. Bevor sie sich überlegte, ob ein Gespräch mit einem Psychologen ratsam wäre, würde sie sich nämlich erst einmal diesem QR-Code widmen.
Der maßlosen Anspannung wich Neugierde, als Mya die Kamera-App ihres Handys öffnete und den Zettel hinter der Linse fokussierte. Nur Sekunden später erschien die Zeile des nun in Textform übersetzten Links auf dem Display, den die junge Frau ohne weiteres Zögern öffnete. Es dauerte nochmals einen Augenblick, bis die Seite lud. Oder besser gesagt, die Bilddatei, die wohl in einer Cloud hochgeladen war und deswegen via Link geteilt werden konnte. Denn entgegen ihrer ersten Annahme stellte Mya schnell fest, dass es sich nicht um eine News-Seite handelte, sondern lediglich den Screenshot der Schlagzeile, sowie der ersten Zeilen des Artikels nebst dem Foto eines Herren mit grauem Haar und rahmenloser Brille, der sicherlich jenseits der Fünfzig war und in Schlips und Kragen steckend herzlich in die Kamera lächelte. In einer Mischung aus Belustigung und Verwirrung runzelte Mya schmunzelnd die Stirn. An sich fand sie die aktuelle Situation alles andere als witzig, aber hier in ihrem Hotelzimmer zu sitzen und anstatt der befürchteten Bilder eines explodierenden Minenschachts das Foto eines fröhlichen, gebügelten Anzugträgers zu betrachten, war auf eine skurrile Weise amüsant. Als sie sich schließlich dem Textausschnitt widmete, wurde sie aber schnell wieder ernst.

Duskwood - Jäger und GejagteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt