Kapitel 19 - Dünnes Eis

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"Was genau bringt Sie zu der Annahme, dass ich Informationen zu AR0SE haben könnte?"
Mya stand in der Tür, während sie die Frage stellte, doch Agent Taylor bedeutete ihr nur mit einer Geste, einzutreten. Im sporadisch eingerichteten Büro, dessen zwei großzügige Schreibtische über und über von Akten bedeckt waren, zwischen denen man die Computermonitore fast hätte übersehen können, saß ein weiterer in Anzug gekleideter Mann, der erheblich jünger aussah als sein Kollege. Das nussbraune Haar hatte er gleichmäßig kurz geschnitten und seinem glattrasierten, länglichen Gesicht verlieh eine Brille einen gebildeten Eindruck. Er erhob sich, als er Mya bemerkte.
"Die Tatsache, dass Sie wissen, wer oder was AR0SE ist, sagt mir bereits genug." Agent Taylor lächelte milde. "Setzen Sie sich bitte."
Nur widerwillig fügte Mya sich der Anweisung des Beamten, und auch nur deshalb, weil sie wusste, dass sie kaum eine andere Wahl hatte als diese. Wie konnte sie nur so dumm sein und sich schon bei der ersten Frage verraten? Einen Fehler hatte sie sich erlaubt. Ein weiterer könnte fatal sein. Alles in ihr schrie nach größter Vorsicht, nach Bedrohung. Eine Flucht war nicht möglich, sodass ihr ganzes Inneres sich auf die einzig andere Alternative umpolte: Offensive.
Der jüngere Agent kam auf Mya zu und reichte ihr die Hand. "Ich bin Agent David Wilson." Er bemühte sich nicht einmal um ein Lächeln, wirkte aber trotzdem auf den ersten Blick sympathischer als Agent Taylor. "Sie sind Mia Graham, nehme ich an?"
"Nein." Sie nahm wieder Platz, nachdem sie dem Agent die Hand geschüttelt hatte. "Mya Graham. Fast wie Maja, nur ein bisschen fancy."
Agent Wilson zog die Brauen hoch, nickte aber wissend, ehe er sich zurück zu seinem Schreibtisch begab. Sie ließ ihn erst wieder aus den Augen, als Steven Taylor sich in den Bürostuhl setzte, der ihr, getrennt durch den Tisch, gegenüber stand.
"Miss Mya Graham. Es freut uns, dass wir Sie noch erwischt haben", meinte er mit dem noch immer anhaltenden kühlen Lächeln auf den Lippen.
Mya musterte den Agent eingehend. "Sie hätten mir auch einfach eine Vorladung schicken können."
"Das hätten wir, ja. Aber je früher wir dieses Gespräch führen, desto besser, nicht wahr?"
"Wenn Sie das sagen."
Das bis eben noch falsche Lächeln wurde plötzlich echt. Sie erkannte es in seiner Augenpartie, die sich sichtbar schmälerte und in Falten legte. "Waren Sie bei Mister Bloomgate eben auch so gereizt?"
Was sollte das denn heißen? Alan Bloomgate hatte sie zumindest nicht über den Gang zu sich gerufen wie ein Hündchen und dann an der Schulter in sein Büro geschoben. Vielleicht war es besser, darauf gar nicht zu antworten.
"Miss Graham", seufzte der Agent schließlich, "Sie haben rein gar nichts zu befürchten. Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen stellen."
"Muss ich Ihre Fragen beantworten?"
"Natürlich müssen Sie das."
Mya runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das, was die Agents gerade taten, rechtens war. Alleine mit zwei Beamten, ohne Kameras oder Aufnahmegeräte oder irgendwem, der Protokoll führte, in einem Büro eine Befragung durchzuführen, klang mehr als suspekt. Keine Belehrung, kein Papierkram, nichts, was ihrer Aussage Gültigkeit verleihen könnte, selbst wenn sie sich darauf einlassen würde. Zumal sie zwar weiß Gott nicht viel über ihre Rechte und Pflichten als Zeugin wusste, aber das ein oder andere aus ihren geliebten True Crime Serien eben doch hängen geblieben war. Sollte sie auf Risiko spielen und die Antwort anzweifeln?
"Das muss ich, wenn es sich um ein offizielles Zeugenverhör handelt, richtig?", konterte sie und verfluchte sich dafür, dass ihre Stimme dabei seltsam hoch wurde. "Aber das hier ist kein offizielles Verhör. Und schon gar keins, das irgendwer angeordnet hat."
Sie hätte nicht geglaubt, dass sie Agent Taylor so schnell das Lächeln aus dem Gesicht wischen konnte, wie es eben geschehen war, aber wie ein Triumph fühlte es sich entgegen ihrer Erwartung nicht an. Seine grünblauen Augen fixierten sie beinahe bedrohlich, als versuchte er, ihr zu verstehen zu geben, wie wenig Geduld er für derartige Spiele mit kleinen Mädchen wie ihr hatte.
"Wenn es Ihnen lieber ist, Miss Graham, kann ich ihnen eine Vorladung über die Staatsanwaltschaft zukommen lassen. Wir können uns allen aber auch eine ganze Menge Zeit und Nerven ersparen und uns ganz ungezwungen ein wenig unterhalten."
"Wir verstehen, dass der erste Kontakt zum FBI furchteinflößend sein kann", mischte Agent Wilson sich daraufhin ein, "aber es gibt keinen Grund, nervös zu werden. Lassen Sie mich Ihnen kurz den Sachverhalt zusammenfassen."
Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes an sich, obwohl er monoton und irgendwie emotionslos sprach. Es erinnerte Mya an einen Sprecher einer Naturdokumentation.
"Agent Taylor ermitteln in einem Fall von Erpressung aus dem Jahre 2017. Sagt Ihnen Peter Kelly etwas?"
Mya sagte der Name nicht nur etwas, sie hatte inzwischen das Gefühl, dass ihr Kopf platzen würde, wenn sie diesen Namen innerhalb der nächsten 24 Stunden nochmals sehen oder hören musste.
"Ja, ich kenne den Fall von Peter Kelly und den Hackern", erwiderte sie.
Es war ihr zwar während des Verhörs von Alan Bloomgate nicht gelungen, aber jetzt war es umso wichtiger für sie, dass sie sich auf ihre Körpersprache konzentrierte und nicht anmerken ließ, wie sehr die Panik sich bereits um ihre Kehle gelegt hatte. Sie durfte auf keinen Fall verwundbar wirken, komme was wolle. Nicht nur für sich, sondern allem voran für Jake.
"Sehr gut. Dann muss ich Ihnen wahrscheinlich auch nicht erklären, wie essentiell es ist, alle Personen zu finden, die an der Erpressung beteiligt waren", meinte Agent Wilson ruhig.
"Nein, das müssen Sie nicht."
"Wir wissen, dass sie Kontakt zu einem ehemaligen Mitglied von AR0SE haben", begann nun wieder Agent Taylor. "Wissen Sie das auch?"
Mya sah von einem der Männer zum anderen. Sollte sie darauf wirklich antworten?
"Nein."
"Sie wissen nicht, dass sie mit einem landesweit gesuchten Hacker Kontakt pflegen?" Jetzt klang er fast entrüstet, was aber kaum verwunderlich war. Das wäre Mya an seiner Stelle wahrscheinlich auch, wenn man ihr so frech ins Gesicht lügen würde.
"Das habe ich nicht behauptet. Sie fragten konkret nach AR0SE", gab sie bissig zurück.
Agent Taylor ächzte. "Miss Graham. Ich bitte Sie um ein bisschen Ernsthaftigkeit."
"Ich bin absolut ernst, aber ich verstehe nicht, was Sie von mir wollen."
"Antworten."
"Meine Antworten scheinen Ihnen nicht zu gefallen." Sie zuckte unschuldig mit den Schultern, deren Zittern wahrscheinlich inzwischen aus der Ferne sichtbar war. Sie spürte das Adrenalin in jeder Faser ihres Körpers, im Kribbeln ihrer Hände, im Vibrieren ihres Kopfes, in der Kälte, die durch ihre Venen floss. Sie erkannte die Angst um Jake darin, die Angst, einen Fehler zu begehen, für den er die Konsequenzen tragen würde, und baute daraus ihr Schutzschild. Diese beiden Agents mochten eindrucksvoll wirken, aber sie konnten ihr aktuell rein gar nichts. Das durfte sie nicht vergessen. Solange sie nicht sprach, konnte sie nichts falsch machen.
Agent Taylor erhob sich und ging in sehr langsamen, bedächtigen Schritten um den Schreibtisch herum auf Mya zu. Dann blieb er hinter ihr stehen.
"Wenn sie nicht über den Hacker sprechen wollen, dann lassen Sie uns über etwas anderes sprechen." Seine raue Stimme kam eindringlich und leise aus seiner Kehle. Mya stellte es die Nackenhaare auf und sie wagte es nicht, sich zu ihm umzudrehen. "Sprechen wir über Sie, Miss Graham."
Ein eiskalter Schauer lief ihr die Wirbelsäule hinab. "Gut, dann sprechen Sie mal über mich."
"Sie haben im Entführungsfall von Hannah Donfort ziemlich gute Ermittlungen geführt, das muss man Ihnen lassen."
"Ich war stets bemüht."
"Und sie hatten einen guten Lehrer, richtig?"
Mya runzelte die Stirn, während sie die Tischplatte vor sich anstarrte. "Was meinen Sie?"
"Dieser Hacker hat Ihnen ein paar einfache Einsteigertipps gegeben, oder? Einen kleinen Crashkurs im Hacken."
"Hat er das?"
"Miss Graham!", donnerte der Agent plötzlich los. Mya fuhr zusammen und drehte sich reflexartig um. "Spielen Sie nicht mit meiner Geduld. Unsere IT-Spezialisten fanden Hinweise auf einen illegalen Zugriff auf Hannah Donforts Smartphone und einer dieser Hinweise führt zu ihrem Handy. Ist Ihnen das eigentlich klar?"
Sie antwortete darauf nicht. Nicht, weil es ihr die Sprache verschlagen hatte, sondern weil sie sich für eine Sekunde darauf konzentrieren musste, nicht zu würgen. Wie konnte Jake das übersehen haben?
"Ist Ihnen der Ernst Ihrer Lage in irgendeiner Form bewusst?"
Offensichtlich nicht. Es schauderte sie einmal von oben bis unten und ihr Kopf war mit einem Mal so leer, dass sie nicht einmal eine Antwort hätte aussprechen können, wenn sie es gewollt hätte.
"Ach, sind wir plötzlich doch nicht mehr so selbstbewusst?" Steven Taylor wirkte regelrecht arrogant, wie er mit verschränkten Armen über ihr stand und triumphierend auf sie hinab lächelte. "Hat Ihr Freund Sie etwa gar nicht vorgewarnt?"
Noch immer blieben Mya die Worte im Hals stecken. Es gab nur eine einzige Sache, an die sie noch denken konnte: Sie durfte nicht einknicken. Sie durfte nicht. Lieber sollte sie sich auf die polierten schwarzen Herrenschuhen übergeben, als jetzt auch nur den Ansatz von Schwäche zu zeigen. Lieber sollte sie sich in einer Beleidigungstirade gegen die Agents strafbar machen. Es war völlig egal. Hauptsache, sie ließ sie nicht an sich heran. Was glaubte dieser Steven Taylor überhaupt, wer er war? Ein FBI Agent, das mochte schon sein. Aber was fiel ihm ein, eine Frau, die seine Tochter sein könnte, zu einem Kollegen in sein Büro zu zerren und anzuschreien? Was für ein Recht hatte er, das mit ihr zu tun? Ihre Hände krallten sich im Stoff ihrer Jeans fest. Wahrscheinlich dachte er, die Wahrheit aus ihr herauspressen zu können, weil sie klein und jung war. Was hatte ein so naives, dummes Ding ihm, dem großen Agent, schon entgegenzusetzen? Aber da hatte er sich ordentlich geschnitten. Sie mochte Angst haben, ja, aber ein bisschen Selbstachtung hatte sie dann doch noch und die würde sie sich bestimmt nicht von ihm nehmen lassen. Sie ließ sich ganz sicher nicht mitten in einem Polizeirevier hinter verschlossenen Türen erpressen.
Mit geballten Fäusten erhob Mya sich ruckartig, entspannte ihre Mimik und stierte Agent Taylor an. "Ich habe kein Interesse an dieser Unterhaltung mit Ihnen", sagte sie so ruhig es ging und setzte dazu an, das Büro zu verlassen.
"Sie wissen, dass Sie um dieses Gespräch nicht herumkommen werden, Miss Graham?", warf Agent Wilson warnend ein.
"Ja." Sie lächelte ihm gereizt zu. "Wenn Sie Ihre Arbeit machen und den offiziellen Weg gehen, können wir gerne sprechen. Ich freue mich schon sehr auf Ihren Brief."
Sie sah nur noch aus dem Augenwinkel, wie Agent Taylor den Kopf schüttelte. "Sie wollen es also wirklich wissen."
"Schönen Tag noch." Dann warf Sie die Türe hinter sich zu und stürmte in großen Schritten den langen Flur entlang. Weg. Schnell, schnell weg von hier. Nicht, dass sie ihren Magen wirklich nicht mehr lange unter Kontrolle hatte. Sie bog um die Ecke in Richtung des Ausgangs und erblickte Alan Bloomgate an der Anmeldung.
"Alan?" Ihre Stimme bebte plötzlich so sehr, dass sie ihre eigenen Worte kaum verstand. "M-mein Handy... Das habe ich Ihnen gegeben und nur Ihnen. Die Agents sollen bloß ihre Finger davon lassen!"
"Miss Graham, was ist denn passiert?", erkundigte der Polizeichef sich sichtbar überrumpelt. Sein Blick, der für einen Moment an Mya vorbeiführte, verriet ihr, dass die Agents ihr gefolgt waren.
"Ich hole das Handy in zwei Stunden wieder ab", keuchte Mya unbeherrscht durch ihren stockenden Atem, "und wehe, Agent Taylor und Wilson kommen bis dahin auf irgendwelche b-blöden Ideen!"
Ohne eine Antwort abzuwarten stürmte Mya auf den Ausgang zu und musste enttäuscht feststellen, dass der Rest der Gruppe wohl nicht mehr hier war. Und sie hatte nicht einmal eine Ahnung, wie spät es eigentlich war.

Duskwood war durchaus ein schöner kleiner Ort. Abseits der Stadtmitte standen vereinzelt imposante alte Häuser auf großen Grünflächen umgeben von Laubbäumen, die sich im sanften Sommerwind wiegten und tanzende Schatten auf den Asphalt warfen. Das warme Licht der sich langsam senkenden Sonne spielte auf Myas Haut, wärmte ihren fröstelnden Körper mit seiner allmählich schwindenden Kraft. Es war ein wundervoller Frühsommerabend.
Mya wusste nicht genau, warum sie weinte. Es gab keinen Grund dafür. Aufhören konnte sie aber trotzdem nicht. Sie wusste nur, dass sie sich nach dem Verlassen des Polizeireviers nicht in der Lage gefühlt hatte, Motorrad zu fahren, hatten ihre Beine sich doch angefühlt, als würden sie jeden Moment nachgeben. Deswegen war sie einfach losgelaufen, ohne Plan und ohne Ziel. Sie war dem Fußgängerweg Richtung Stadtrand gefolgt, dessen zugehörige Straße nur wenig befahren war, und hatte die Emotionen zugelassen, die sich gewaltsam aus ihr herausgedrängt hatten. Seitdem ging sie einfach immer geradeaus, weinte vor sich hin und scheiterte an jedem Versuch, sich von den Schmerzen in ihrer Brust abzulenken.
Wiedermal wischte Mya sich die Tränen von den Wangen, denen sofort neue folgten. Sie war so unfassbar müde. Am liebsten wäre sie zum Hotel gefahren, hätte alle ihre Sachen gepackt und wäre nach Hause gefahren. Was hinderte sie auch daran? Niemand konnte sie dazu zwingen, zu bleiben. Die Wahrheit war jedoch, dass die Einsamkeit, die sie in ihrer Wohnung in Shefford erwartete, nicht besser zu ertragen war, als die Ängste, die Duskwood in ihr auslöste. Und ihre wahren Probleme, die würden ihr sowieso folgen. Vor ihnen gab es keine Flucht, denn sie waren auf ihrem Laptop, auf dem Handy, in ihrem Kopf zu jeder Zeit bei ihr. Es gab kein Entkommen vor den unsichtbaren Feinden, die sie immer und überall hin verfolgten, über all ihre Schritte informiert waren, deren Augen sie permanent auf sich gerichtet fühlte, selbst jetzt, wo sie ihr Handy nicht bei sich trug. Jeder könnte mit in dieser Sache hängen, sei es die Dame, die an der Bushaltestelle saß, der Verkäufer an der Tankstelle, der Rezeptionist in ihrem Hotel. Jede einzelne Person, die ihren Weg kreuzte, könnte nur ein weiteres Augenpaar sein, das sie ausspionierte, um den nächsten Schachzug des Spiels zu planen, dessen Regeln ihr noch immer genau so unbekannt waren wie die Personen, gegen die sie überhaupt spielte. Und das Schlimmste war, dass sie mit niemandem darüber reden konnte, der ihr hätte helfen können, denn sich der Polizei oder dem FBI anzuvertrauen bedeutete unweigerlich, Jake in irgendeiner Form verraten zu müssen. War dieser Preis noch bezahlbar oder war er längst zu hoch? Wie weit war sie bereit, für ihn zu gehen? Sie hatte die Polizei bereits belogen und das FBI zum Feind erklärt, aber das reichte noch lange nicht aus. Womöglich war die Frage nach ihrem Willen allemal nicht die richtige. Sie sollte sich stattdessen besser Fragen, wie weit sie es schaffen würde, bevor man sie endgültig brach und sie fürchtete sich davor, diese Frage irgendwann beantworten zu müssen.
Die Gedanken in Myas Kopf drehten sich stetig nur im Kreis. Dieser Strudel an Fragen und Ängsten nahm ihre Wahrnehmung derart ein, dass sie gar nicht bemerkte, dass ein Auto in der Parkbucht neben ihr hielt, obwohl die Lautstärke des roten Oldtimers ihrer Harley Davidson fast hätte Konkurrenz machen können.
"Hey, Mya!", rief ihr eine Stimme fröhlich zu. Erst das brachte sie zurück in die Realität und ließ sie herumfahren.
Phil hatte die Scheibe des Mustangs heruntergelassen, lehnte mit dem Ellenbogen lässig im Fenster und grinste sie an. "Wohin geht's, soll ich dich mitnehmen?"
Noch nicht ganz fähig, seine Anwesenheit und die Frage so weit zu verarbeiten, als dass sie eine Antwort hätte formulieren können, starrte sie ihn an. Man erkannte den exakten Moment, in dem er schließlich bemerkte, dass sie weinte, denn ihm fiel binnen einer Sekunde das Lächeln von den Lippen und er stoppte den Motor.
"Was ist los?"
Die Frage reichte aus, um Mya jede Kontrolle über ihre Gefühle zu nehmen, und obwohl sie sich um ein Lächeln bemühte, füllten sich ihre Augen abermals mit Tränen. Kopfschüttelnd wandte sie sich von Phil ab, als dieser ausstieg und auf sie zuging.
"Hey..." Sachte legte er eine Hand auf ihre Schulter. "Was hast du?"
Myas erster Versuch ihm zu antworten wurde von einem Schluchzen unterbrochen. "Nichts, alles gut."
"Ach, Mya." Phil drehte sie behutsam zu sich herum und zog sie in eine Umarmung; seine Arme lagen fest um ihren Körper geschlungen, als könnten sie sie vor der Welt und all ihrem Horror beschützen. Sie ließ es wortlos geschehen.
"Ist bei der Polizei irgendetwas passiert?", erkundigte er sich beinahe flüsternd, während er ihr über den Rücken streichelte, doch sie brachte kein Wort heraus und schüttelte nur den Kopf.
Sie standen noch einige Zeit neben der Straße und er hielt sie einfach nur fest. Er stellte keine weiteren Fragen, versuchte nicht, ihre Emotionen zu rechtfertigen, und ließ sie nicht los, bis sie selbst sich aus der Umarmung löste, die ihr zumindest für ein paar Minuten das Gefühl von Sicherheit geboten hatte. Allmählich versiegten die Tränen und Mya wischte sich mit den zitternden Händen über die Wangen.
"Ich weiß nicht, was los ist", erklärte sie Phil schließlich heiser, der sie besorgt musterte. "Ich bin einfach gestresst."
"Verständlich. Manchmal wird es einem einfach zu viel, hm?" Er lächelte sie sanft an. "Soll ich dich irgendwo hin fahren?"
"Nicht nötig, danke. Ich habe mich nur nicht getraut, in diesen Zustand Motorrad zu fahren."
"Wo sind eigentlich die anderen?"
"Keine Ahnung", murmelte sie, "die Polizei hat mein Handy. Ich kann ihnen nicht schreiben. Aber wir wollten uns um acht sowieso in der Aurora treffen."
Diese Aussage schenkte Phil sein kesses Grinsen wieder. "Umso besser. Wenn du willst, können wir beide schon Mal vorfahren und auf deine Freunde warten. Dann bekommst du als aller erstes einen Drink für die Nerven und dann sieht die Welt direkt anders aus, glaub mir."
"Wenn ich jetzt Alkohol trinke, übergebe ich mich."
"Ich habe auch Kaffee und Säfte in der Aurora. Wir finden schon was für dich." Er betrachtete Mya von Kopf bis Fuß mit diesem seltsam kritischen Blick, als wollte er prüfen, ob ihr auch wirklich niemand etwas angetan hatte.
"Aber ich kann dich so nicht alleine lassen. Du musst auch nicht mit mir reden, Hauptsache, du läufst nicht mehr ziellos durch die Gegend", fügte er dann noch hinzu.
Er hätte es Mya nicht weiter begründen müssen, denn sie war alles andere als abgeneigt von ein wenig Gesellschaft, völlig egal wessen. Jetzt hatte Phil sie sowieso schon verheult und verwirrt, wie sie war, gesehen, also gab es nicht einmal mehr ihren Stolz, den sie noch verlieren konnte.
"In Ordnung."
Zufrieden winkte Phil sie zu seinem Auto. "Na dann, auf geht's."

Die Aurora hatte eine völlig andere Atmosphäre, wenn es draußen noch hell war und weder Gäste, noch laute Musik den Raum füllten. Es war schon etwas befremdlich, aber gleichzeitig auch wahnsinnig gemütlich.
Phil hatte Mya einen Mocktail gemischt, auf dessen Oberfläche er mit einem roten Sirup ein Smiley gemalt hatte, und ein paar Chips gebracht. Tatsächlich ging es ihr ein wenig besser, nachdem sie zumindest eine Kleinigkeit gegessen hatte. Sie sah aber vermutlich trotzdem noch aus wie durchgekaut und ausgespuckt.
"Lass dich von den Bullen nicht ärgern, die wollen nur unter deine Haut", meinte der junge Mann mürrisch, als er sich zu ihr an den Tisch setzte.
"Ich meine, Alan war ja nett zu mir. Das war kein Problem", gab Mya leise zurück, "aber diese Typen vom FBI kamen unerwartet."
"Was wollen die eigentlich von dir?"
"Wir hatten Hilfe von einem Hacker, als wir Hannah gesucht haben."
Phil nickte. "Ja, das habe ich gehört."
"Wahrscheinlich glaubt das FBI, dass ich weiß, wo er ist. Keine Ahnung."
"Hm." Nachdenklich klopften seine Finger auf die Red Bull Dose, die vor ihm stand. "Und weißt du es?"
"Nein." Sie seufzte tief und legte mit geschlossenen Augen den Kopf in den Nacken. "Seit Hannah zurück ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört."
Zumindest mit Ausnahme dieser einen Nachricht, die sie am Vortag überrollte hatte wie ein LKW.
"Dann können sie dir nichts, Mya."
"Dich hat die Polizei doch auch unschuldig eingesperrt."
Aufmerksam beobachtete sie Phils Reaktion. Sein Blick wurde finster und er verzog genervt das Gesicht, zuckte aber gleichzeitig mit den Schultern, als wäre es ihm völlig egal. "Weil mich jemand grundlos angeschwärzt hat. Aber das hat sich ja geklärt und ist bei dir auch nicht der Fall."
Mya wusste, dass er sich wirklich darum bemühte, ihr die Sorgen zu nehmen, aber keine Worte dieser Welt waren dazu momentan in der Lage. Es war trotzdem lieb von ihm, es zu versuchen.
"Lass uns lieber nicht mehr darüber reden. Wahrscheinlich kommt es mir morgen schon gar nicht mehr so schlimm vor", sagte sie unter einem zittrigen Lächeln. "Mir war heute einfach alles zu viel, das ist alles."
"Ich finde es unmöglich, dass man dir jetzt einen Strick aus deiner Hilfe dreht", zischte Phil, doch seine Stimme beruhigte sich sofort wieder, "aber du hast Recht. Vergessen wir das für heute."
Die einsetzende Stille und die Art, wie Phil Mya anlächelte, waren ihr ein wenig unangenehm und sie konnte spüren, wie ihr das Blut in den Kopf stieg.
"Sag mal, wie lange bleibst du eigentlich noch in Duskwood?", wollte er plötzlich wissen.
Mya wiegte den Kopf hin und her. "Ein paar Tage, denke ich. Länger als bis zum kommenden Freitag kann ich sowieso nicht bleiben, weil ich sonst niemanden mehr habe, der meine Katzen hütet."
Abgesehen davon war sie sich nicht sicher, ob sie es noch länger hier aushalten würde als bis dahin.
"Immerhin noch fünf Tage", stellte Phil zufrieden fest.
"Höchstens."
"Und für wann planst du deinen nächsten Besuch in Duskwood?" Er meinte seine Frage eindeutig nicht ernst, aber unbeantwortet wollte Mya sie trotzdem nicht lassen.
"Wenn sich der ganze Trubel hier gelegt hat, komme ich gerne nochmal zurück", erklärte sie. Dann verschränkte sie grinsend die Arme vor der Brust. "Oder ihr kommt das nächste Mal alle zu mir nach Shefford?"
"Ist da was los?"
"Das Aufregendste ist der Coffeeshop, in dem ich arbeite."
Phil lachte. "Das klingt ja spannend."
"Ohne seine Horrorlegenden und die Aurora wäre Duskwood auch nicht spannender", konterte sie gespielt beleidigt.
"Wie nett, dass du die Aurora zu den aufwertenden Faktoren zählst."
Mya lächelte. "Sie gehört dir schon lange, oder?"
"Ja, seit der alte Hanson damals verschwand. Aber ich habe noch eine Menge Geld und Zeit investiert, bevor sie das geworden ist, was sie heute ist." Mit purem Stolz sah Phil sich in der Bar um, um zu bewundern, was er sich seither aufgebaut hat. Die Erwähnung von Michael Hanson brachte sie plötzlich auf eine Frage, die bislang noch nicht geklärt worden war und es fühlte sich wie der richtige Rahmen an, um sie endlich zu stellen.
"Da gibt es noch etwas, was ich dich gerne fragen würde", begann sie.
Neugierig musterte er sie und wartete ab.
"Du hast Jennifers Armband beim Pfandleiher abgegeben, oder?"
Irgendetwas in Phils Mimik änderte sich, aber sie konnte nicht ganz deuten, was.
"Ja, das stimmt."
"Weshalb?"
"Dir fällt es wirklich schwer, diese ganze Geschichte endlich loszulassen, hm?"
Mya schüttelte erst den Kopf, nickte dann jedoch. "Kann schon sein."
Sie schwiegen sich eine ganze Weile an und sahen sich gegenseitig in die Augen, bis Phil Myas Blick nicht mehr standhalten konnte und ihn seufzend abwandte. "Kein Wort zu meiner Schwester, okay?"
"Versprochen."
Er schien kurz nach den richtigen Worten zu suchen und schaute überall hin, nur nicht mehr in ihre Richtung. "Ich hab mich vielleicht ein bisschen verzockt."
"Hast du gespielt?"
"Gewettet." Es war ihm sichtlich unangenehm, was seiner sonst so einnehmenden Aura einen deutlichen Knacks versetzte. Mit einem Mal wirkte er ganz klein in seiner großen Bar. "Seit Hannahs Entführung lief die Aurora dann zusätzlich nicht mehr so wie vorher und die Einnahmen sind von heute auf morgen richtig eingebrochen. Aber ich muss ja trotzdem alles zahlen. Strom, Wasser, Zutaten, das darf man nicht unterschätzen."
"Hast du Schulden?"
"Nein, Schulden nicht. Aber es war zuletzt auch nicht mehr genug, um die laufenden Kosten zu begleichen." Er sank kaum merklich in seinem Stuhl zusammen und schüttelte den Kopf. "Nachdem ich einige Mahnungen bekommen habe, blieb mir nichts anderes mehr übrig, als ein paar Sachen beim Pfandleiher abzugeben, aber ich hatte am Ende nicht genug Geld, um alles wieder zurückzuholen."
"Wie zum Beispiel Jennifers Armband."
"Genau."
Aber da war noch eine Sache, die sich Mya nicht erschloss und über die sie bereits mit Jake spekuliert hatte, bevor sie wussten, wie das Armband im Pfandleihhaus gelandet war.
"Warum hast du es zum Pfandleiher gebracht und nicht einfach direkt verkauft?"
Phil zuckte mit einer Schulter und nippte an seinem Energydrink, was als Übergangshandlung kaum zu übersehen war. "Ich brauchte das Geld sofort. Ins Pfandleihhaus gehst du herein, gibst etwas ab und bekommst Kohle. Einen Käufer zu finden dauert viel länger."
Nun, das ergab natürlich Sinn.
"Ich dachte, dass dir vielleicht etwas an dem Armband lag", gestand ihm Mya nachdenklich.
"Naja, was heißt, mir lag etwas daran. Ich mochte Jennifer, ja. Auch wenn ich sie im Grunde kaum kannte. Sie war süß, humorvoll. Immer unterwegs, das hat mir gefallen."
"Warst du in sie verliebt?"
Phil lachte leise, doch irgendetwas verriet Mya, dass sie ihn ein wenig in Verlegenheit brachte. Das passte so gar nicht zu ihm, aber das leichte Erröten seiner Wangen war nicht zu leugnen.
"Verliebt wäre ein bisschen übertrieben. Ich fand sie gut, das war alles. Sie war ein paar Jahre älter als ich und außer ein paar belangloser Gespräche hatten wir damals nicht viel miteinander zu schaffen. Von der Bettkante gestoßen hätte ich sie aber auch nicht", erklärte er ihr.
Sie grinste ihn vielsagend an. "Deine Gesichtsfarbe spricht für sich, wenn ich das so sagen darf."
"Ach." Er wandte sich ein wenig ab. "Du stellst aber auch wirklich immer die ungemütlichen Fragen."
Dann aber suchte er plötzlich Myas Blick, wirkte auf einen Schlag wieder viel ernster, auch wenn er ein sanftes Lächeln trug. "So gefällst du mir schon viel besser, Mya."
"Wem gefallen denn auch heulende Frauen?" Sie verdrehte die Augen, bezog die Geste aber mehr auf den Zustand, in dem er sie vorhin auf der Straße aufgegabelt hatte.
"Nein, das meine ich nicht", entgegnete er jedoch, "oder zumindest nicht nur das."
"Sondern?"
"Du hast Feuer in dir. Temperament."
Mya war so perplex, als Phil ihr seine Hand auf den Unterarm legte, dass sie nichts darauf zu sagen wusste und nur stumm seinen Blick erwiderte.
"Ich hasse es zu sehen, wie man versucht, dir das zu nehmen. Das darfst du nicht zulassen."
Ihr Kopf fühlte sich glühend heiß an.
"Ich versuche es", antwortete sie tonlos.
Warum war es denn plötzlich so wahnsinnig still in der Bar? Warum vergingen die Sekunden nur noch halb so schnell?
"Sag mal, wann öffnet die Aurora eigentlich?" Sie hätte sich ohrfeigen können für diese dämliche Frage, noch während sie sie aussprach, aber da war es bereits geschehen.
Sichtbar amüsiert zog Phil seinen Arm zurück und überprüfte die Uhrzeit auf seinem Handy.
"Vor einer halben Stunde. Aber hey, es ist mein Laden. Wenn ich später aufmache, dann ist das meine Sache."
"Du hättest deine Gäste nicht wegen mir warten lassen müssen", merkte sie skeptisch an. Was für eine unangenehme Erkenntnis.
"Ach was, die laufen wegen ein paar Minuten schon nicht davon."
Eine laute Stimme war von draußen zu vernehmen, schrill und aufgebracht, und Mya schien sie im selben Augenblick zu bemerken wie Phil. Sie sahen sich gegenseitig an, um sich jeweils zu vergewissern, dass sie sie sich nicht einbildeten. Dann erhob sich Phil mit gerunzelter Stirn.
"Was ist da denn los?", fragte er, mehr sich selbst als Mya, und ging auf den Eingang der Aurora zu. Das Geschreie wurde lauter, doch man konnte nicht verstehen, was die Frau sagte, die dort draußen derart tobte. Mya zögerte kurz, folgte Phil aber schließlich nach draußen.

"Was hast du dir dabei gedacht, Dan?! Du tickst doch nicht mehr ganz richtig!"
Jessys Gesicht war hochrot und glänzte durch die Tränen, die ihr die Wangen hinabliefen.
"Und dann besitzt du noch die Frechheit, ihn im Gruppenchat schlechtzumachen, weil er festgenommen wurde, als wäre das ein Beweis für seine Schuld! Wie kannst du sowas nur tun?!"
Thomas kam vom Parkplatz auf die Gruppe zugelaufen, als Mya und Phil gerade aus der Bar traten, und versuchte, Jessy an der Schulter nach hinten zu ziehen; weg von Dan, der wie unbeteiligt zur Seite starrte, die Zähne zusammengebissen, die Stirn in tiefe Falten gelegt.
"Jessy, beruhige dich doch", versuchte Thomas, sie zu besänftigen, doch sie entzog sich seiner Berührung.
"Nein, ich beruhige mich ganz sicher nicht!" Sie schluchzte heftig. "Wie konntest du meinen eigenen Bruder bei der Polizei anschwärzen? Wie konntest du nur?"
"Bitte was?" Phil stand der Mund offen, als Jessy Dan die Worte ins Gesicht schrie. Entgeistert sah er von Jessy zu Thomas, der nur mit den Schultern zuckte, und dann hinab zu Dan.
Fabelhaft. Es war doch klar gewesen, dass die Wahrheit irgendwann aufkommen würde. Dass Dan die bevorstehenden Zeugenvernehmungen nicht als mögliches Risiko betrachtet hatte, verwunderte Mya allerdings nicht.
"Dan hat bei der Polizei gegen dich ausgesagt", presste Jessy schniefend hervor, bevor sie sich zurück an den armen Kerl im Rollstuhl wandte, der wie in einem Schubskreis den Vorwürfen und entsetzten Blicken schutzlos ausgeliefert war. "Und dann hast du nicht mal den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen, sondern wartest, dass die Polizisten es mir erzählen! Du bist ein verdammter Vollidiot, Dan!"
Auch Cleo und Lilly kamen nun ebenfalls hinzu und vervollständigten die absolut chaotische Szene, die sich vor der Aurora abspielte.
"Was ist denn hier los?", fragte Cleo entrüstet.
Mya ging auf sie zu, ließ dabei die noch immer schreiende und schimpfende Jessy aber nicht aus den Augen. "Dan hat Phil an die Polizei verpfiffen. Deswegen hat man ihn damals festgenommen", flüsterte sie ihr zu.
Cleo musterte sie mit weit aufgerissenen Augen. "Das ist nicht dein Ernst."
Mya nickte nur.
"Dieser Depp."
Sie nickte abermals, machte einen Schritt zurück und zündete sich eine Zigarette an, als Phil sich seiner Schwester anschloss und nun seinerseits begann, Dan anzuschreien.
"Was sollte die Scheiße eigentlich?!"
Er erhielt keine Reaktion. Dan saß vor ihm wie ein bockiges Kind.
"Hast du 'ne Ahnung, wie es sich anfühlt, unschuldig im Knast zu sitzen?!"
Mya zog lange an ihrer Zigarette und atmete den Rauch bedächtig aus. Ob Dan das eine Lehre war, seine Fehler künftig direkt zuzugeben? Dann müsste er sich beim nächsten Mal nicht auf offener Straße zusammenfalten lassen und könnte vielleicht sogar auf ein bisschen Gnade oder Verständnis appellieren. In dieser Situation aber fiel es sogar Mya schwer, Mitleid für ihn zu empfinden.
"Wir sollten uns jetzt alle einmal beruhigen", warf Cleo irgendwann ein.
"Ich schwöre dir eins, wenn du nicht in einem verfluchten Rollstuhl hocken würdest und es im Knast nicht so verdammt langweilig wäre, würde ich dir jetzt auf's Maul hauen!" Phil baute sich vor ihm auf, was angesichts der Tatsache, dass Dan ungefähr doppelt so breit wie er war, nicht ganz den gewünschten Effekt zeigte.
"Leute?" Cleo winkte hilflos zu der Gruppe hinüber, aber Mya deutete ihr mit einem kurzen Kopfschütteln, damit aufzuhören.
"Lass gut sein, Cleo. Das bringt nichts", murmelte sie ihr resigniert zu.
"Ach, Leute..."
Phils Gewaltandrohung schien jedoch einen Schalter in Dan umgelegt zu haben, denn er baute sich nun seinerseits auf und fixierte den Barkeeper mit einem Blick wie ein Stier. "Ganz ehrlich, Hawkins, du bist doch selbst Schuld. Benimm dich wie ein Verdächtiger und du wirst wie ein Verdächtiger behandelt, das hat sogar Jessy gesagt!"
"Das habe ich zu dir gesagt, du Idiot!", kläffte sie ihn daraufhin an. Ihre Stimme überschlug sich.
"Wenn du mir auf's Maul hauen willst, dann tu's doch", forderte Dan Phil mit ausgebreiteten Armen heraus. "Schmeiß nicht mit leeren Drohungen um dich. Du hast doch gar nicht die Eier, es wirklich zu tun!"
"Pff, ich hab's nicht nötig, mich mit jemandem anzulegen, der sich selbst in 'nen Rollstuhl gesoffen hat. Auf dein Niveau muss ich mich nicht begeben!"
"Na dann komm mal her, mein Freund!" Wütend stellte Dan die Bremsen des Rollstuhls ein, umgriff die Armstützen und stemmte sich mühsam unter den schockierten Blicken der Menge auf seine Beine. Inzwischen wurde die Eskalation nicht nur von ihren Freunden, sondern auch einigen Passanten kritisch beäugt.
"Oh mein Gott...", stöhnte Mya entnervt und wandte sich ab. Wenn sie diesem Theater noch weiter zusehen musste, fürchtete sie, sich vor lauter Kopfschütteln ein Schleudertrauma zuzuziehen. Glücklicherweise schien es nun auch Thomas zu reichen, der als verbliebener starker Mann der Truppe entschied, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Er straffte seine Schultern, trat zwischen Phil und Dan und trennte die beiden Streithähne mit einem beherzten Stoß gegen Phils Brust, der ihn zurücktaumeln ließ.
"Es reicht jetzt, Leute", zischte er.
Und wie Recht er damit hatte. Mya nutzte die Gelegenheit, schnippte ihre Zigarette weg und ging auf Jessy zu, die noch immer weinend und schluchzend dastand und Dan einen so angewiderten Blick widmete wie einem totgefahrenem Tier.
"Komm Jessy, lass uns ein Stück gehen." Mya formulierte es wie ein Angebot, schob sie aber mit einem Arm, den sie von vorne um sie gelegt hatte, vor sich her. Sie ließ es sich gefallen, drehte sich aber im Weggehen nochmals um.
"Du hast es wirklich verdient, dass ich dich habe sitzen lassen, Dan!"
"Ja, danke für den Rollstuhl!"
Wow. Mya hatte keinen der zwei je so aggressiv erlebt und es beiden auch gar nicht zugetraut. Dan vielleicht noch mehr als Jessy, aber trotzdem.
"Ach, das ist jetzt meine Schuld?!"
Sie sollte dringend das Tempo erhöhen, wenn sie verhindern wollte, dass in fünf Minuten ganz Duskwood dem Streit zuhörte. Also beschleunigte sie ihren Schritt und schob Jessy mit ein wenig mehr Nachdruck vorwärts. "Jessy, genug jetzt."
"Ich hasse ihn!" Jessys Körper zitterte unkontrolliert, immer und immer wieder gebeutelt von heftigem Schluchzen.
"Ich weiß. Lass uns einfach gehen."

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 30 ⏰

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