Kapitel 17 - Alpträume

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Ein leises Rauschen vermischte sich mit Myas Traum, den sie im selben Moment wieder vergessen hatte, in dem sie langsam erwachte. Etwas verwirrt, noch im Halbschlaf, drehte sie sich auf den Rücken. Was war das nur für ein Geräusch?
Ihr Kopf kam nur langsam mit der Sinneswahrnehmung mit, die mehr und mehr die Realität flutete und den Schlaf aus ihrem Körper verdrängte. Das Zimmer war in Finsternis gehüllt, in der das silbrige Licht der Nacht vage Konturen erkennen ließ. Mya konnte sich nicht daran erinnern, die Nachttischlampe ausgeschaltet zu haben, geschweige denn, wann sie überhaupt eingeschlafen war, doch dieser Gedanke flammte nur für den Bruchteil einer Sekunde in ihr auf, ersetzt durch eine ganz andere Feststellung.
Dieses Geräusch... Es war kein Rauschen. Es waren Schritte. Ein schlurfender Gang, dessen jeder Schritt vom Badezimmer über den Teppichboden auf sie zu schleifte.

Schritt.

Für Schritt.

Für Schritt.

Die einsetzende Panik überkam Mya wie ein Schlag in den Magen, der plötzlich und unwillkürlich ihren Fluchtinstinkt aktivierte, aber ihr Körper reagierte nicht. Ihre halbgeöffneten Augen schafften es schließlich, die Silhouette in der Dunkelheit zu erkennen; groß und schlaksig gewachsen, eine Kapuze auf dem Kopf, die Hände zu Fäusten geballt, stand sie am Fußende des Bettes und türmte über ihr. Ihre Lider versuchten gewaltsam sich gegen ihren Willen wieder zu schließen und sie kämpfte dagegen an. Sie durfte die Person nicht aus den Augen lassen.
Sie versuchte zu schreien, doch ihre schmerzhaft zusammengebissenen Zähne wollten sich nicht öffnen.
Sie wollte aus dem Bett aufspringen, doch jeder Muskel war verkrampft und schwer wie Blei.
Es war, als wäre ihr ganzer Körper in einen Überlebensmodus gefallen und so vom brennenden Adrenalin überfordert, dass er sich aufgehängt hatte und keinem Instinkt, keinem Reflex mehr Folge leisten konnte. Sie lag da wie paralysiert, kämpfte gegen ihre sich verdrehenden Augen, versuchte fieberhaft, die Person zu fixieren. Die Person, die einfach vor ihrem Bett stand und sich nicht mehr bewegte. Wie um alles in der Welt war sie hier herein gekommen? Mya war sich absolut sicher, dass sie die Türe von innen verschlossen hatte, das Fenster war zu, also wie hatte es jemand unbemerkt in dieses Zimmer geschafft? Und was um Gottes Willen wollte diese Gestalt von ihr?
Ihre gelähmten Glieder ließen Mya nur die Option, zu warten und zu beten. Also wartete sie. Wartete, dass der Mann mit ihr sprach. Wartete, dass er eine Forderung stellte. Wartete, dass er sich bewegte, auf sie zukam, ein Messer zog oder die Hände um ihren Hals legte. Betete um Gnade, oder zumindest ein schnelles Ende. Versuchte ein letztes Mal, den Mund zu öffnen und zu schreien, doch es Drang nur ein leises, gepresstes Pfeifen durch ihre geschlossenen Lippen aus ihrem Hals, durch den seit ihrem Erwachen keine Luft mehr geflossen war, wie sie auf einmal feststellte.
Sie erstickte.
Verdammt, sie bekam keine Luft.
Dieser Druck auf ihrer Brust, als säße jemand darauf, er erlaubte es ihrer Lunge nicht, sich zu entfalten, einzuatmen, zu schreien. Sie wollte einatmen. Einfach atmen. Warum sah ihr dieser Mann zu und tat nichts?
"Ich muss wach werden."
Ihr Unterbewusstsein sprach zu Mya wie ein außenstehender Beobachter. Die Forderung verschwand jedoch ebenso schnell wie sie gekommen war, blieb nur schemenhaft in ihrem Verstand zurück wie ein längst vergessener Traum. Was war das eben gewesen? Was hatte diese Stimme ihr gerade gesagt?
Das Gefühl zu ersticken verdrängte nach und nach jeden anderen Gedanken, ließ sie vergessen, dass sie wie gefesselt in ihrem Bett lag, dass ihr Kiefer schmerzte, dass ihre Fingernägel sich in das Fleisch ihrer Handballen bohrten. Sie musste einatmen. Sie brauchte Luft. War die Person näher gekommen? Sie wirkte plötzlich noch größer, noch dunkler, ein fast unmenschlich wirkender Schatten, eingefroren im kalten Licht des Sternenhimmels in einem totenstillen Raum.
"Er ist nicht echt."
Sie schlief. Irgendwie wusste Mya es plötzlich. Sie war wach genug, um zu verstehen, dass sie schlief. Nicht wach genug, um ihren Alptraum zu beenden. Aber wach genug um zu wissen, dass dieser Mann nicht da war. Er war nur ein Konstrukt ihrer Fantasie. Wenn sie die Augen nur schloss, wenn sie den Gedanken lange genug zuließ, dann würde er verschwinden. Dann würde er...
Hektisch nach Luft schnappend riss Mya nun gänzlich ihre Augen auf.
Ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen.
Sie schob die Bettdecke von ihrem schweißnassen Körper und sah sich in ihrem Zimmer um. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, sendete kühles Licht durch die Rollos, begleitet von lautem Vogelgezwitscher, in ihr Zimmer hinein. Ihr Nachttischlicht brannte.
Angestrengt setzte sie sich in ihrem Bett auf und atmete einige Male tief durch, als wäre sie eben vor dem Eindringling um ihr Leben gerannt. Obwohl sie endgültig verstand, dass der Mann an ihrem Bett nur ein in ihrem Kopf entstandenes Monster gewesen war, brachte das ihren fast schmerzhaft rasenden Herzschlag nicht sofort dazu, sich wieder zu beruhigen. Diese Art des Alptraums war ihr schon lange nicht mehr begegnet. Die Art, in der man die Augen öffnete und trotzdem schlief; in der man wusste, dass man träumte, und den Horror dafür umso realer wahrnahm. Jetzt waren sie wieder da, diese Ungeheuer; die in Form von schemenhaften Gestalten manifestierten Ängste, die ihr den Verstand zu rauben versuchten. Wie lange sie es dieses Mal wohl schaffen würde, sie nach dem Moment des Erwachens zu verdrängen?
Mit einer Hand tastete Mya nach dem Handy, das sie bei sich gehabt haben musste, als sie eingeschlafen war, und fand es schließlich unter ihrem Kopfkissen.
Es war erst fünf Uhr morgens. Aber in das Reich ihrer Alpträume zurück zu kehren war keine Option mehr. Jedenfalls nicht jetzt.

"Du siehst echt schlimm aus."
Mya warf Dan einen vorwurfsvollen Blick zu. "Danke."
"Hast du gestern gesoffen oder was?"
"Dann hätte ich heute Nacht zumindest geschlafen", entgegnete sie ihm mürrisch und legte den Kopf in ihre Hände. Vielleicht hätte sie sich doch lieber einen Espresso bestellen sollen anstelle des Tees, aber sie fürchtete, dass ihr der Kaffee wieder hochkommen würde. Ihr war so wahnsinnig schlecht.
Liebevoll legte Jessy ihr eine Hand auf die Schulter. "Hast du nur schlecht geschlafen oder wirst du krank?"
"Nur schlecht geschlafen."
"Wegen Jake?"
Als Mya den Kopf wieder hob, stellte sie fest, dass nicht nur Jessys besorgter Blick auf ihr ruhte, sondern jene der gesamten Gruppe. Sie bemühte sich darum, ein neutrales Gesicht zu wahren, als sie antwortete.
"Auch."
"Hat es etwas mit dem zu tun, was du vorhin in die Gruppe geschrieben hast?", erkundigte Cleo sich neugierig.
Nachdem diese nämlich am Morgen im Gruppenchat vorgeschlagen hatte, sich vor der Aussage bei der Polizei im Café Regenbogen zu treffen, hatte Mya verkündet, dass es Neuigkeiten gab, die sie mit ihnen teilen wollte. Vielleicht wäre es für die Nerven besser gewesen, mit diesem Gespräch noch zu warten, aber sie konnte unmöglich mit dem Chat von letzter Nacht auf dem Handy ins Polizeirevier gehen und wusste nicht, ob dieser erhalten bleiben würde, wenn sie den Messenger löschte und später neu installierte. Also hatte sie die App noch behalten, um sie den anderen zu zeigen.
"Auch das, ja", antwortete Mya nickend. "Ich hatte gestern ein sehr interessantes Gespräch mit dem User des Forums, der meinte, dass er mir vielleicht helfen kann."
"Ach was." Erstaunt sah Jessy sie an. "Was hat er denn gesagt?"
Cleo legte sich unauffällig einen Finger auf die Lippen, was Jessy zum Schweigen brachte, gerade, als die Bedienung mit den Getränken an den Tisch trat und diese verteilte.
"Ich möchte euch gar nicht zu viel erzählen", begann Mya schließlich verschwörerisch, nachdem alle ihre Bestellungen erhalten hatten. Sie sah noch einmal über ihre Schulter der Kellnerin nach, um sicherzugehen, dass sie sich außer Hörreichweite befand, bevor sie weitersprach. Zum Glück war der größte Anschwung der Gäste, der zum Frühstücken gekommen war, bereits weg, und die nächste große Menge würde wahrscheinlich erst zu Kaffee und Kuchen am frühen Nachmittag wiederkommen, sodass das Café verhältnismäßig leer war.
"Ihr könnt den Chat gleich einfach selbst lesen, er ist ziemlich selbsterklärend. Ich habe im Forum einen QR-Code von diesem User bekommen, mit dem ich einen Messenger downloaden konnte. Über den haben wir miteinander geschrieben."
"Klingt ja total seriös", brummte Dan in sein Glas, doch Mya überging seinen Einwurf gekonnt.
"Er behauptet, damals an den Ermittlungen teilgehabt zu haben, und war seltsam vorsichtig. Also, fast schon misstrauisch. Aber er hat mir alle meine Fragen beantwortet."
"Fandest du ihn vertrauenswürdig?", wollte Cleo wissen. Der Geruch ihres Kaffees drehte Mya tatsächlich den Magen um, sodass sie schlussendlich doch froh war, sich für den Kräutertee entschieden zu haben. "Ich meine, glaubst du ihm, was er dir erzählt hat?"
Mya ließ sich die Frage für einen Moment durch den Kopf gehen. "Ja, ich denke schon. Er wirkte irgendwie aufrichtig. Außerdem habe ich nicht wirklich eine andere Wahl, als ihm vorerst zu glauben."
"Aber was hat er denn jetzt gesagt?" Lilly versuchte gar nicht erst, ihre Ungeduld zu verbergen.
Auch wenn es Mya an diesem Vormittag schwerfiel, ihren bissigen Tonfall zu übergehen, schluckte sie ihre Zurechtweisung herunter, öffnete die App und legte ihr Handy wortlos in die Tischmitte. Sofort versammelte sich die Gruppe um Dan herum, der in seinem Rollstuhl nicht die Möglichkeit hatte, mit den anderen zusammenzurücken, und dafür das Gerät an sich nahm, damit jeder Einblick auf das Display hatte. Währenddessen schlürfte Mya nachdenklich an ihrem Tee. Der Geschmack von Minze und Melisse erinnerte sie an die gemütlichen Abende auf dem Sofa ihrer Eltern vor einem knisternden Holzofen im tiefsten Winter. Erinnerungen an ein Haus umgeben von weißen Bergen und Feldern, das ihr in jeder Lebenslage ein Rückzugsort voll Geborgenheit und Sicherheit gewesen war, auch lange, nachdem sie ausgezogen war. So viele Sorgen hatte sie auf dieser Couch mit ihren Eltern geteilt, so viele lustige Geschichten erzählt und angehört, gelacht und geweint. Zumindest sofern ihre Eltern Zeit für sie gehabt hatten. Als Oberärzte in einer großen Klinik waren ihre Arbeitszeiten nicht immer mit einem gemütlichen Familienleben vereinbar gewesen, sodass Mya auch einen nicht unerheblichen Teil ihrer Kindheit und Jugend in der Obhut ihrer älteren Schwester verbracht hatte. Die Einsamkeit, die sie in ihrem Elternhaus erlebt hatte, nachdem Rachel mit ihrem späteren Ehemann zusammengezogen war, hatte für sie eine Belastung bedeutet, die sie lange nicht mit ihren Eltern geteilt hatte - aus Angst, undankbar zu wirken. Schließlich hatten ihr ebenjene Berufe ihre privilegierte, sorgenfreie Kindheit überhaupt ermöglicht. Erst Jahre später, als Mya damit begonnen hatte, sich ihr eigenes Leben aufzubauen, hatte sie ihrer Mutter dieses Thema anvertraut und damit jenes schlechte Gewissen in ihr ausgelöst, das sie eigentlich hatte vermeiden wollen. Schließlich hatten beide ihrer Eltern stets nur das Beste für ihre Töchter gewollt und dafür selbst viel zurückgesteckt.
Viele Minuten verstrichen, in denen Mya nur anhand der Mimik der anderen erahnen konnte, in welchem Teil des Chats sie sich befanden und es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Dan das Handy zu ihr zurückschob.
"Und du bist dir sicher, dass das alles so stimmt?" Die Skepsis aus Thomas Stimmte spiegelte sich unübersehbar in dem Blick zu, den er er zuwarf.
"Ich muss momentan davon ausgehen, dass es das tut", gab sie zurück. Ihre Finger drehten den Ring an ihrer Halskette unaufhörlich hin und her.
Nachdenklich verschränkte Cleo die Arme, nachdem sie sich ein wenig Milchschaum aus dem Mundwinkel getupft hatte. "Lässt sich denn gar nichts von diesen Aussagen überprüfen?"
"Ich habe letzte Nacht nicht mehr versucht, das herauszufinden, aber weder Lilly noch ich konnten vorher etwas darüber im Internet finden." Mya machte eine vage Handbewegung. "Diese Tatsache hat mich ja erst zu dem Gespräch mit Solo geführt."
"Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich das für die Zusammenfassung eines Thrillers halten", murmelte Jessy, was Lilly mit einem Nicken unterstützte, bevor sie sich Mya erwartungsvoll zuwandte.
"Was denkst du, welche Rolle Jake in der Geschichte spielt?" Ihr entging die Sorge in Lillys Augen nicht.
Seufzend lehnte die Angesprochene sich im Stuhl zurück, zuckte mit den Schultern. "Lasst uns einfach mal davon ausgehen, dass Solo die Wahrheit sagt. Dann gäbe es unterschiedliche Möglichkeiten, was Jake damit zu tun haben könnte."
"Der Informant kann er jedenfalls dann nicht sein", stellte Cleo fest, "obwohl ich erst gedacht habe, dass das der Fall ist. Er hätte sich in die Computer von Peter Kelly hacken können, um an die Beweise zu kommen."
"Aber welchen Grund hätte er gehabt, AR0SE darin einzuweihen?", fragte Thomas.
"Vielleicht wollte er sich vor ihnen beweisen?"
Mya schüttelte den Kopf und unterbrach die beiden mit einer raschen Geste. "Es spielt doch auch keine Rolle. Wir wissen, dass Jake nicht der geheime Informant von AR0SE war."
"Ich denke, wir können festhalten, dass er auf jeden Fall ein Mitglied war", warf Jessy daraufhin ein. "Das ist zumindest sehr naheliegend."
Die Gruppe nickte in Einigkeit.
"Es gibt also zwei Möglichkeiten, welche Beteiligung er an dem Fall hatte: Entweder hat er einfach mitgemacht, weil er es tun musste, oder er hat die ganze Erpressung selbst angezettelt", fügte Mya dem noch hinzu.
Cleo runzelte angespannt die Stirn, als müsste sie erst abwägen, ob sie Mya ihre Frage stellen sollte, ehe sie es tat. "Traust du ihm zu, jemanden zu erpressen?"
"Naja, ich weiß ja nicht, ob ihr's vergessen habt, aber der Typ hat uns bedroht, unsere Handys gehackt, Myas Chats und Telefonate ausspioniert und sich geheime Dateien von irgendwelchen Psychologen und so geholt. Wenn das für dich nicht skrupellos schreit, kann ich dir auch nicht weiterhelfen", knurrte Dan bitter. "Er ist kriminell. Das wissen wir. Also müssen wir ihm alles zutrauen."
"Offen gestanden traue ich Jake tatsächlich grundsätzlich ziemlich viel zu." Mya rührte geistesabwesend in ihrer Teetasse herum, obwohl sich darin rein gar nichts befand, was es umzurühren galt. "Ich kann euch nicht sagen, auf welche der beiden Seiten ich ihn eher einordnen würde, zumal das Ganze ja auch schon fünf Jahre her ist. In so einem langen Zeitraum kann ein Mensch sich stark verändern."
"Wie alt ist er eigentlich?", wollte Thomas daraufhin wissen, was sie ihm nur mit einem weiteren Schulterzucken beantworten konnte.
"Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung."
"Schon mal darüber nachgedacht, dass dein ach-so-süßer Hacker ein uralter Creep sein könnte, der auf junge Dinger wie dich steht?" Mya sah genau, wie Dan hinter seinem todernsten Gesichtsausdruck ein Grinsen unterdrückte. "Vielleicht ist er fünfzig und sieht aus wie Gollum, oder er ist genau so hoch wie breit. Weißt du's?"
Ihre Mimik sprach das "Willst du mich eigentlich verarschen?" eindrucksvoll genug aus, um ihn schmunzelnd zum Schweigen zu bringen. Sie konnte ihm allerdings nicht ins Gesicht werfen, welchen Anhaltspunkt sie für sein Alter hatte und deswegen mit einer relativ hohen Sicherheit sagen konnte, dass er sich altersmäßig im selben Rahmen befinden musste wie der Rest der Gruppe, also schätzungsweise irgendetwas zwischen 20 und 30 Jahren. Womöglich war er kaum älter oder jünger als Hannah.
"Zurück zum Thema", meinte sie schließlich, statt weiter auf Dans Diskussion einzugehen. "Ich habe dementsprechend keine Ahnung, ob er eines der beiden Mitglieder gewesen ist, die Peter Kelly öffentlich an den Pranger gestellt haben, aber ich will auch das nicht komplett ausschließen."
"Oder ob er derjenige war, der heimlich den Kontakt zur Tochter gehalten hat", ergänzte Cleo die Aussage leise. "Dann wäre er nämlich womöglich auch der Verräter von AR0SE."
Doch Lilly schüttelte sofort den Kopf. Etwas zu enthusiastisch für Myas Geschmack. "Also, erstens ist doch gar nicht gesagt, dass derjenige, der mit Annabelle geschrieben hat, derselbe ist, der AR0SE verraten hat. Das hätte genau so gut sie selbst sein können."
"Guter Punkt." Jessy nickte. "Oder auch jeder andere aus der Gruppe, aus welchem Grund auch immer."
"Zweitens: Selbst wenn es die gleiche Person war, war Jake, solange er bei uns war, immer total kalkuliert und vorsichtig. Kontakt zu Annabelle zu haben und seine eigene Gruppe zu verraten, ist ein total hohes Risiko, das er sicher nicht einfach eingegangen wäre. Das passt nicht zu ihm. Vor allem, weil das dann schon sehr nach einer Racheaktion klingen würde, weil derjenige rausgeworfen wurde."
"Stimmt. Aber wir wissen auch, dass man sein Verhalten manchmal ändert, wenn Gefühle ins Spiel kommen." Cleo musste Mya gar nicht ansehen, damit diese wusste, auf was sie mit ihrer Bemerkung anspielte. Außerdem hatte sie Recht. Jake hatte es selbst bewiesen. Sie senkte den Kopf unauffällig und hoffte, nicht zu erröten.
"Ich finde Lillys Einwand gut, dass der Verrat an das FBI niemand internes gewesen sein muss. Daran hatte ich bisher gar nicht gedacht", sagte sie daraufhin schnell. Auch, dass der Verrat aus Rache geschehen war, schien naheliegend. Vielleicht war es Annabelles Rache für den Tod ihres Vaters gewesen, nachdem ihr Plan, lediglich dessen Wahl zu verhindern, derart aus dem Ruder gelaufen war. Auch verschmähte Liebe war ein möglicher Grund, sich Vergeltung zu wünschen. Aber wie so oft waren all das nur Spekulationen.
"Also wissen wir im Endeffekt nicht mehr als vorher", seufzte Thomas unzufrieden, worauf Jessy ihn missmutig ansah.
"Sei nicht so ein Pessimist, Thomas. Ich meine, mit den neuen Infos können wir zumindest erahnen, warum Jake vom FBI gesucht wird. Das ist besser als nichts."
"Finde ich auch", stimme Cleo ihr zu.
Lilly hingegen schien eher auf Thomas Seite zu sein. Ihr zweifelnder Blick lag auf Myas Handy. "Und wo machst du jetzt weiter?"
Wow. Eine Frage und Myas allemal schon angeschlagene Stimmung fand einen neuen Tiefpunkt. Sie traute sich zwar nicht, sich zu fragen, ob sie noch schlimmer werden konnte, da ihr der Termin bei der Polizei erst noch bevorstand, aber viel Platz nach unten war definitiv nicht mehr.
Wo sollte sie schon weitermachen? So interessant das Gespräch mit Solo auch gewesen war, auf ihrer Suche nach Jake und ihren mysteriösen Spielgegnern hatte es sie keinen Schritt weitergebracht. Alle Beteiligten, die sie nun namentlich kannte, waren für sie nicht greifbar, schließlich konnte sie kaum versuchen, die Telefonnummer von Annabelle Kelly zu ermitteln und sie nach dem Namen des Hackers zu fragen, mit dem sie damals Kontakt hatte. Jake war weg und die Ermittler von Polizei und FBI waren ganz besonders in ihrer Situation auch nicht die besten Ansprechpartner.
Wahrscheinlich für alle sichtbar von dieser Frage entmutigt, hob Mya beide Schultern und schüttelte den Kopf. "Ich habe absolut keine Ahnung. Ich werde noch ein paar Passwörter für den Stick probieren, aber ansonsten habe ich auch keine Ideen mehr."
"Ich hätte aber noch eine." Dan stützte sich mit den Armen auf der Tischplatte ab und funkelte Mya verschwörerisch an.
"Achso?"
"Ich weiß, dass ihr meine Theorien meistens für Unsinn haltet...-"
"Weil sie meistens auch nicht viel Sinn ergeben." Jessy rollte die Augen.
"...Wie auch immer." Er räusperte sich theatralisch. "Meistens wollt ihr mir ja nicht zuhören, aber wie wär's damit: Solo ist Hackerboy."
Dass ihr der Mund offenstand, bemerkte Mya erst, als Dan sie darauf aufmerksam machte. "Gleich fliegt dir 'ne Fliege in den Rachen."
"Wie kommst du darauf, dass Solo Jake ist?", wollte Jessy wissen.
Als wäre die Antwort auf ihre Frage so eindeutig, wie die Tatsache, dass Gras grün war, runzelte Dan die Stirn. "Na, hast du dir den Chat mal durchgelesen?"
"Ja, und?"
"Das klingt doch total nach Hackerboy."
"Findest du?" Für einen kurzen Augenblick sah Jessy hinüber zu Mya, um deren Reaktion zu überprüfen.
"Logisch, und wie. Dieser Solo-Typ schreibt genau wie euer Hacker. Als hätte er sich 'nen Duden in den Hintern gesteckt."
Die Situation war ernst und Mya war auch eigentlich alles andere als nach Lachen zumute, aber ein Grinsen konnte sie sich ebenso wenig verkneifen wie die anderen. Er hatte schon irgendwie Recht, was die Wortwahl betraf.
"Also, ich hätte das zwar jetzt anders formuliert, aber so blöd finde ich Dans Gedanken gar nicht", meinte Cleo. "Gewisse Ähnlichkeiten sind schon da."
"Aber warum sollte er erst alles löschen und sich in der selben Nacht bei Mya melden?" Leider war Jessys Einwand genau so berechtigt, wie die neue These nachvollziehbar.
"Ein schlechtes Gewissen wird er halt gehabt haben", murrte Dan, "und zwar zurecht. Ich meine, denkt mal nach. Dieser eine Mensch auf der Welt, der Antworten auf Myas Fragen hat, findet 'rein zufällig' ausgerechnet ihren Eintrag im Forum, direkt, nachdem sie ihn geschrieben hat. Das ist doch Bullshit."
"Stimmt, das wäre schon ein sehr großer Zufall", stimmte Jessy ihm zu.
"Na eben. Hackerboy dagegen stalkt Mya eh schon seit Wochen, sieht dadurch das Forum und schreibt ihr, um sie auf den Kaffeeklatsch mit der Polizei vorzubereiten oder so. Was weiß ich, warum er das tut. Er ist das Genie, nicht ich." Dan spie den letzten Satz regelrecht aus, aber das konnte Mya ihm hinsichtlich der Tatsache vergeben, dass sein Einfall tatsächlich gut war.
"Das könnte vielleicht der nächste Schritt sein", überlegte sie laut, "denn wenn Solo wirklich Jake ist... Er würde sich bestimmt irgendwie verraten. Ich meine, ich würde das doch irgendwann erkennen."
Ihr Herz schlug bei der Vorstellung, die ganze letzte Nacht mit Jake geschrieben zu haben, direkt ein paar Takte schneller. War das vielleicht auch der Grund, warum er ihr so vertraut gewesen war? Warum sie ihm fast erzählt hätte, dass jemand vor ihrer Tür gestanden und sie sich gefürchtet hatte?
Lilly schenkte ihr ein hoffnungsvolles Lächeln. "Du solltest es versuchen, Mya."
"Aber vorher solltest du die App löschen", ermahnte Thomas sie.
"Das werde ich, keine Sorge." Mya nippte an ihrem Tee. "Ich hoffe, dass der Kontakt danach in der App noch vorhanden ist."
"Wollen wir uns nach der Aussage eigentlich irgendwo treffen?", fragte Jessy plötzlich in die Runde.
"Wenn sie unsere Handys nicht behalten und wir danach noch schreiben können, gerne", gab Thomas zurück.
Mya verzog das Gesicht. "Ohne Handy bin ich wirklich aufgeschmissen. Ich hoffe, wir bekommen es schnell wieder zurück."
"Ansonsten können wir doch einen Treffpunkt vereinbaren", schlug Lilly vor. "Um 20 Uhr in der Aurora zum Beispiel."
Die Gruppe stimmte zu und beendete ihr Treffen kurz danach. Cleo musste zurück zu ihrer Mutter, um dieser bei der Gartenarbeit zu helfen, Thomas und Lilly wollten Hannah vor der Zeugenaussage noch besuchen und Mya hatte sich vorgenommen, Rosi und Jeff anzurufen, um nach dem Rechten zu sehen. Es waren noch etwas über vier Stunden bis zum Termin bei der Polizei - die längsten vier Stunden in Myas ganzem Leben.

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