Nachdenklich starrte Mya das Handy an, das auf dem Schreibtisch lag. Es könnte schon Sinn ergeben. Wenn es für Jake, aus welchen Gründen auch immer, nicht sicher war, sich online aufzuhalten und deswegen den Kontakt zu ihr derzeit nicht gewährleisten konnte, wäre Solo seine Möglichkeit, ihr dennoch alles zu erklären, was sie wissen musste. Vielleicht war auch die Tatsache, dass Myas Aussage bei der Polizei bevorstand, der Grund dafür, dass er Distanz zu ihr halten musste, zumal sie sich auch nicht sicher sein konnte, dass Jake nicht mehr über die Ermittlungen der Polizei und des FBI wusste als sie. Es würde erklären, weshalb Solo ihr ohne Scheu begegnete und so offen über Themen sprach, deren Konsequenzen offensichtlich schwerwiegend sein könnten, sollten sie in die falschen Hände geraten. Er vertraute ihr, weil Jake ihr vertraute. Dieses Vertrauen hatte er ihr immer wieder bewiesen, obwohl er ebenso oft betont hatte, welche Gefahr sie für ihn bedeutete. Seine Nachlässigkeit, was die Geheimhaltung seiner Person betraf, hatte dabei zunehmend an Wichtigkeit für ihn verloren und Mya immer weiter in einen Zwiespalt aus Freude darüber, sich ihm nahe fühlen zu können, und Angst um seine Freiheit getrieben, auch wenn sie ihm keine Leichtsinnigkeit zutrauen würde. Das hatte schlussendlich begründet, weshalb sie ihn um ein Treffen in Duskwood gebeten hatte, denn er hätte es sicherlich abgelehnt, wäre es zu gefährlich für ihn gewesen. Schließlich war ihm genau so klar wie ihr, dass Gefahr für ihn auch Gefahr für sie bedeutete, ganz egal, ob es sich um private Feinde oder Ermittler der Polizei handelte. Er hätte sie dieser Gefahr nicht ausgesetzt.
Zumindest hatte Mya daran zum Zeitpunkt ihres letzten Gesprächs noch fest geglaubt. Jake war selbst ein Risiko eingegangen, um sie zu beschützen.
"Wir sehen uns in Duskwood", hatte sie ihm geschrieben, während sie um ihn in den Tiefen der Eisenbruchmine gebangt hatte.
"Das werden wir", hatte er geantwortet, während ihm klar geworden war, dass er umstellt war und in der Falle saß.
Er hatte Mya in Sicherheit wissen wollen und sich deshalb über ihren Kopf hinaus in diese Lage gebracht. Ein unerschütterlicher Beweis für seine Gefühle zu ihr, für seine Loyalität und sein tiefes Vertrauen in sie.
Der drückende Schmerz in ihrer Brust sprach leider eine Sprache, die Mya bis vor kurzem geglaubt hatte, nie verstehen zu können. Auch wenn es für alles, was zuletzt geschehen war, logische Erklärungen gab, die Jake schützten und seine Handlungen entschuldigten, konnte ihr Kopf keinen Haken hinter die Sache setzen. Stattdessen wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie mit all diesen Überlegungen und Theorien nur versuchte, auf Gedeih und Verderb eine Begründung dafür zu finden, weshalb sie jetzt ganz alleine mit allem dastand, die ihr Bild von Jake nicht zerstörte. Das schlechte Gewissen, das dadurch wiederum ausgelöst wurde, war nicht einfacher zu ertragen als das Geständnis, das sie sich machen musste, nämlich dass ihr Vertrauen in ihn, welches er sich wieder und wieder von ihr hatte bestätigen lassen, sich nun als nicht so unerschütterlich herausstellte, wie sie es bis zum Schluss geglaubt hatte.
Wenn Mya es darauf anlegte, gab es eben leider auch genau so viele Begründungen für alles, die gegen Jake und seine Treue zu ihr sprachen. Es waren Gedanken, die ihren Verstand einnahmen wie ein Virus, ihr Vertrauen kaperte und abtötete, um sich weiter und weiter zu verbreiten und die Oberhand zu gewinnen. Gedanken, die sie anwiderten und wütend machten, sich aber einfach nie gänzlich ignorieren ließen. Solos plötzliches Auftauchen konnte hunderte andere Gründe haben, sei es nun ein Zufall oder das Ziel, ihr oder Jake zu schaden, und auch Jakes ebenso plötzliches Verschwinden und das Vernichten aller Beweise ihrer Zusammenarbeit könnten rein eigennützig und zu Myas Nachteil geschehen sein. Er könnte sich so oft nach ihrem Vertrauen erkundigt haben, aus Angst, sie aus Hannahs Fall zu verlieren oder aufgrund persönlicher Unsicherheiten, doch genau so gut war es möglich, dass er damit hatte sicherstellen wollen, dass Mya ihn schön brav weiter deckte, nur um sie dann fallen zu lassen, wenn auf einmal Konsequenzen im Raum standen. Dans Theorien, die er in Cleos Wohnung geäußert hatte, klangen abgedroschen, wie der Plot eines schlechten Hollywoodstreifens, der bereits nach fünf Minuten so vorhersehbar war, dass man sich vom Regisseur auf den Arm genommen fühlte, aber sie hatte eben genau so wenige Gegenargumente, wie er Beweise, die seine These stützten. Und so ging es ihr mit all diesen Gedanken, ob sie nun für oder gegen Jake sprachen. Es waren eben nichts weiter als haltlose Theorien. Derzeit gab es nur eine Sache, die feststand: Würde man Mya jetzt fragen, ob sie für Jake die Hand ins Feuer legen würde, so könnte sie dies nicht mit absoluter Überzeugung bejahen. Sie konnte sich gegen dieses Gefühl nicht wehren. Sie konnte es nicht einmal richtig begründen.
Mya wurde plötzlich bewusst, dass es genau dieser Faktor war, der die größte Angst vor der morgigen Zeugenaussage in ihr auslöste. Würden Alan Bloomgate oder gar die Agents des FBI, die über Jakes Fall deutlich besser informiert waren als der Polizeichef von Duskwood, weitere Argumente gegen seine Loyalität bringen, könnte sie nicht versprechen, diese nicht an sich heranzulassen. Alan hatte es immerhin schon geschafft. Sie wollte Jake vertrauen. Sie wollte daran glauben, dass er sie liebte und sie beschützen wollte und niemals etwas tun würde, das ein Risiko für sie darstellte, aber es fiel ihr zunehmend schwer. Es tat weh. Unfassbar weh. Er war mit seinem Verschwinden zu ihrer größten Schwachstelle geworden und sie trug nun gewissermaßen die Verantwortung für seine Freiheit, ohne festes Fundament, auf das sie sich stützen könnte, auf ihren Schultern.
Mit einem kurzen Kopfschütteln riss Mya sich aus ihren angestrengten Überlegungen und nahm den Bleistift wieder zur Hand. Sie sollte Solo nicht zu lange warten lassen; nicht, dass er noch offline ging, weil er glaubte, sie sei eingeschlafen. Für einen kurzen Augenblick musste sie nachdenken, wo sie eigentlich stehen geblieben war, bevor ihre Gedanken sie eingenommen hatten.
Ach ja. Die Notizen.
Sie nahm einen Schluck Kaffee, schrieb weitere Stichpunkte auf dem Zettel nieder, die sie aus dem bisherigen Chat mit Solo entnehmen konnte, und vervollständigte diese schließlich mit jenen Notizen, die sie am Nachmittag während ihrer Recherche über Peter Kelly auf ihrem Laptop festgehalten hatte. Es war ein unscheinbares Blatt Papier, das Mya nach einigen weiteren Minuten in den Händen hielt, aber beinhaltete genügend Beweise für ihr Interesse an Jakes Fall, dass sie es vor dem FBI nicht erklären können würde, sollten sie es jemals finden. Sie musste sich unbedingt ein gutes Versteck dafür ausdenken, sonst war auch das Löschen aller kritischen Dateien auf ihrem Handy völlig vergebens. Davor war es aber an der Zeit, sich vom Höhe-, beziehungsweise Tiefpunkt, aus Peter Kellys ausschweifendem Leben von Solo erzählen zu lassen. Auch wenn sie im Großen und Ganzen bereits wusste, was gleich kommen würde, konnte Solo ihr Wissen bestimmt um einige interessante Fakten ergänzen.
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Duskwood - Jäger und Gejagte
FanfictionNach Richys Geständnis und Hannahs Befreiung bemühen sich Mya und ihre Freunde aus Duskwood darum, in ihren Alltag zurückzukehren, doch das gestaltet sich als schier unmöglich. Zudem quält Mya die Frage, was aus Jake wurde, der seit jener Nacht spur...