Kapitel 18 - Der Fall Hannah

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[Trigger Warning: Thematisierung von Tod, Suizid, Straftaten]

"Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Zeugenvernehmung audiovisuell dokumentiert wird." Alan Bloomgates tiefe Stimme brummte durch den kargen Raum, während er das Aufnahmegerät auf dem Tisch vor Mya aufbaute.
"Wir werden sie also in Ton- und Bildaufnahmen festhalten." Er drehte das Gerät einmal so und einmal so. Sie beobachtete ihn dabei, die Hände anspannt ineinandergelegt, die Beine verkrampft überschlagen.
"Dies dient der Dokumentation und unserer Sicherheit."
Die Wände waren weiß, kühles Licht aus Hallogenröhren erleuchtete das beengte Zimmer. Der Stuhl unter Mya war erstaunlich bequem, blau gepolstert und schwingend, wie man sie aus Konferenzräumen kannte. Der Tisch hingegen war abgegriffen, an ein paar Stellen lag das Holz unter dem weißen Lack frei.
"Sobald die Geräte aufgebaut sind, werde ich Sie über Ihre Rechte und Pflichten belehren."
Sie hatte sich beim Setzen an einem Metallring gestoßen, der an der seitlichen Kante der Tischplatte befestigt war. Wie viele Leute dort wohl schon fixiert werden mussten?
"Sobald das erledigt ist, werden Sie die Belehrung mit einer Unterschrift bestätigen und...- Ach, wie funktioniert dieses verdammte Ding? Diese neue Technik..."
Wie viele Leute wohl schon über den dunkelgrauen Linoleumboden gegangen waren? Wie viele Emotionen dieser Raum bereits bezeugt hatte? Wie viele Menschen mit Ängsten gekommen und erleichtert gegangen waren, oder das exakte Gegenteil erlebt hatten? Wie viele Lügen und Wahrheiten hier ausgesprochen worden waren und wie viele Leben diese zerstört hatten?
Zu welcher Kategorie würde sie wohl gehören?
"Ah. Jetzt funktioniert es. Hallo? Test, Test."
Alan betrachtete das Gerät ein letztes Mal kritisch und nahm dann Mya gegenüber Platz.
"Gut. Ich werde jetzt Ihre Personalien aufnehmen. Bitte antworten Sie verbal und deutlich hörbar."
"In Ordnung." Myas Mund war furchtbar trocken und sie liebäugelte jetzt schon mit der Flasche Wasser und den drei Gläsern, die links von ihr auf dem Tisch standen.
"Wir vernehmen Sie heute als Zeugin im Fall Hannah Donfort. Im dringenden Tatverdacht steht Richard Roger. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Menschenraub, Freiheitsberaubung, schwere Körperverletzung, das Vortäuschen einer Straftat, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch und Strafvereitelung vor."
Mit jedem einzelnen Vorwurf pochte Myas Kopf etwas schmerzhafter. Für den Fall, dass Richy stabil war und seine Verhandlung noch miterleben würde, was wäre wohl das angesetzte Strafmaß für diese Palette an Anschuldigungen? Sie wollte es sich gar nicht ausmalen.
"Ihr Name ist Mya Elaine Graham, geboren am 05. September 1997, gebürtig aus Deutschland, wohnhaft in der Langworth Street in Shefford. Sie sind 25 Jahre alt, ledig und stehen in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zum Tatverdächtigen. Ist das korrekt?"
"Ja." Sie konnte ihre Hände so oft im Schoß abwischen wie sie wollte, es half nichts gegen die Feuchtigkeit auf Haut.
"Nun folgt die Belehrung, Miss Graham."
Miss Graham... Er nannte sie sonst immer beim Vornamen. Andererseits war das hier auch ein offizielles Verhör und da war Professionalität seinerseits natürlich essentiell. Wäre er mit einer Zeugin beim Vornamen, würde das vermutlich die Glaubwürdigkeit beeinflussen. Es vermittelte Mya aber auch ein unangenehmes Gefühl der Distanz, wo sie doch bisher das Gefühl gehabt hatte, Alan vorsichtig vertrauen zu können.
"Sie sind dazu verpflichtet, dass jede Ihrer Aussagen der absoluten Wahrheit entspricht. Trotzdem haben Sie ein Auskunftsverweigerungsrecht, das bedeutet, dass Sie sich nicht zu Gegebenheiten äußern müssen, mit denen Sie sich selbst belasten würden. Sie müssen uns jedoch darauf aufmerksam machen, sollte das der Fall sein."
Warum sprach Alan eigentlich im Plural? Wie viele Leuten sahen oder hörten ihrem Verhör zu?
"Das Schützen von Straftaten Dritter nennt sich Strafvereitelung und stellt eine Straftat dar. Mit einer wissentlichen Falschaussage machen Sie sich ebenfalls strafbar. "
Hervorragend. Da war sie also jetzt, die Situation, vor der Mya immer Angst gehabt hatte. Jake mochte ihr damit geholfen haben, die Beweise auf ihrem Handy zu vernichten, weil ihr die Polizei somit nicht mehr nachweisen konnte, dass sie Hannahs Cloud gehackt hatte. Aber vor ihrem viel schlimmeren Horror konnte er sie damit nicht bewahren, nämlich der allesentscheidenden Frage, wem sie den Strick um den Hals legte: sich selbst oder ihm. Er müsste eigentlich wissen, dass Mya sich eher die Zunge herausschneiden würde, als ihn zu verraten.
"Haben Sie die Belehrung verstanden und zur Kenntnis genommen?"
"Ja, habe ich."
"Gut. Dann bitte ich hier um Ihre Unterschrift."
Alan legte ihr ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber vor die Nase und wartete ab. In dem Dokument waren die Gesetzesauszüge enthalten, die der Polizeichef ihr eben vorgetragen hatte, so weit sie das als Laie beurteilen konnte. Sollte sie sich das alles nochmal durchlesen?
Sein stechender Blick ruhte auf ihr, das konnte sie spüren, ohne hinsehen zu müssen. Also unterschrieb sie, ohne dem Zettel mehr Zeit zu widmen.
"Für das Protokoll: Miss Graham hat die Belehrung unterzeichnet."
Er legte das Blatt Papier auf eine dick gefüllte Akte, die er dabei hatte. Sie war mit einer Fallnummer und "Donfort, H." beschriftet.
"Um uns das Verhör ein wenig zu erleichtern, möchte ich Sie darüber in Kenntnis setzen, dass wir über die Mithilfe durch einen gesuchten Straftäter wissen. Sie müssen diese Tatsache also nicht umgehen und dürfen offen darüber sprechen. Es wird für Sie keine strafrechtlichen Konsequenzen haben."
Das machte die Sache leider nicht einfacher.
"Lassen sie uns also mit Ihrer Zeugenaussage beginnen. Ich bitte Sie darum, von Beginn an zu erzählen, was sie über Hannah Donforts Entführungsfall wissen und inwiefern sie darin verwickelt waren."
"In Ordnung."
Mya entging nicht, dass Alan das Aufnahmegerät nochmals skeptisch beäugte. "Fangen Sie an."
Mit einem tiefen Atemzug sammelte sie all ihre Konzentration und ließ die Erinnerungen der Zeit zu, die sie an diesen Punkt geführt hatte. Es hätte eigentlich das Ende dieses Kapitels in ihrem Leben sein sollen. Ihr Plan war gewesen, nach Duskwood zu fahren, ihre Aussage zu machen und einen Haken dahinter zu setzen. Mit ihren neuen Freunden gemeinsam aufzuarbeiten, was passiert war und zu heilen. Aber diese Möglichkeit hatte man ihr genommen. Stattdessen hatte man sie von einem Alptraum übergangslos in den nächsten geschubst und sie mit diesem Verhör zum Henker gemacht, dessen Opfer in ihrer eigenen Verantwortung lag. Es war unfair. So unendlich unfair. Und ihre arme Familie daheim, ihre Eltern und ihre Schwester, und auch ihre Freunde und ehemaligen Kollegen, sie wussten alle gar nicht, welchem Horror sie begegnet war, seit sie vor jenem aus Deutschland geflohen war - ebenfalls mit dem ursprünglichen Ziel, zu verarbeiten, was ihr passiert war und nach vorne zu blicken. Hätte sie damals gewusst, dass "nach vorne blicken" bedeutete, sich im Freifall zu befinden und einen Abgrund hinab zu starren, wäre sie einfach daheim geblieben. Was hätte sie nur dafür gegeben, jetzt all ihre Sachen zu packen und nach Hause zu fliegen? Aber das half auch nichts. Es gab keinen Ausweg. Wenn der Moment kam, musste sie eine Entscheidung treffen und mit den Folgen leben. Und dieser Moment würde unweigerlich kommen.
"Es begann alles am dritten Mai. Da habe ich ein Nachricht von Thomas Miller auf dem Handy empfangen. Er und seine Freunde, also Jessy, Cleo, Dan, Richy und Hannahs Schwester Lilly, haben mir erklärt, dass Hannah drei Tage davor verschwunden ist", begann sie zu erzählen.
"Kannten Sie eine der Personen vor dem dritten Mai diesen Jahres?"
"Nein."
"Gut, fahren Sie fort."
Sie fühlte sich von seinem strengen Blick beinahe erdrückt.
"Thomas hat mir erzählt, dass er eine Nachricht von Hannahs Handy empfangen hat, die meine Nummer enthielt. Und weil das Handy mit ihr verschwunden war, ist er davon ausgegangen, dass Hannah selbst ihm meine Nummer geschickt hat. Aber dann war die Nachricht mit der Nummer wohl plötzlich verschwunden."
"Niemand von Ihnen hat damals die Polizei darüber informiert." Es klang eher wie ein Vorwurf als eine Frage.
Mya nickte zögerlich. "Ich habe mich ehrlich gesagt nicht in der Position gesehen, das zu tun. Was Thomas betrifft... Er war am Anfang natürlich ein Verdächtiger und hatte Angst, dass die Polizei ihm nicht glauben oder er sich damit sogar noch mehr belasten könnte. Immerhin hatte er keinen Beweis mehr dafür, dass er eine Nachricht von Hannah erhalten hat."
"Wann haben sie beschlossen, sich der Gruppe anzuschließen?"
"Ehrlich gesagt noch im selben Gespräch mit Thomas. Ich weiß nicht, warum. Ich meine, ich wollte natürlich auch wissen, warum Hannah ihm meine Nummer geschickt hat, wo ich sie doch gar nicht kannte. Ich habe alle erst einmal ein wenig kennengelernt. Ein paar Stunden später hat sich dann der Hacker bei mir gemeldet. Den Rest der Gruppe hatte er schon zuvor über seine 'Anwesenheit' informiert. Er meinte, dass ich der Schlüssel zu diesem Fall sei und bat mich mehr oder weniger darum, ihn und die anderen dabei zu unterstützen, Hannah zu finden. Dann haben wir alle damit begonnen, selbst zu ermitteln. Wir wussten ja nicht, wie sehr das noch ausufern würde."
"Wie haben Sie denn die Ermittlungen in Eigenregie unterstützt? So weit ich weiß, waren Sie nie vor Ort."
"Das war ich nicht, nein. Ich habe mich mit den anderen darüber beratschlagt, was sie tun könnten, und die Ergebnisse mit ihnen ausgewertet. Und offen gestanden habe ich auch die Gruppe selbst nach und nach ein bisschen befragt. Dabei kam zum Beispiel heraus, dass Thomas vor Hannahs Verschwinden Streit mit ihr hatte, weil sie sich so seltsam verhielt, und dass ein Armband in ihrer Tasche ihn deswegen zum Verdacht geführt hat, dass sie ihm fremdgeht. Oder auch, dass Hannah kurz vor ihrer Entführung in einer Apotheke gesichtet wurde, aus der sie sich verschriebene Antidepressiva geholt hat."
"Woher wollen Sie wissen, dass es verschreibungspflichtige Medikamente waren?" Alan sah sie herausfordernd an.
"Ich habe bis vor kurzem im Rettungsdienst gearbeitet. SSRI sind verschreibungspflichtig."
"Und woher wissen Sie, dass es sich um SSRI gehandelt hat und diese Miss Donfort gehörten?"
Er wartete doch nur darauf, dass Mya sich verplapperte, oder kam ihr das nur so vor? Ihr wurde schwallartig heiß.
"Diese Stelle möchte ich lieber auslassen."
Es war absolut unmöglich, dass Alan ihren Herzschlag nicht hören konnte, so heftig trommelte er in ihrem Brustkorb. Für eine gefühlte Ewigkeit, die sicher nicht länger als zwei Sekunden anhielt, musterte der Polizist sie aufmerksam.
"Fahren Sie fort."
"Cleo hat außerdem Alfie, Miss Walters Sohn, getroffen und der bezeichnete sie als 'die Freundin des toten Mädchens' und behauptete, dass der Mann ohne Gesicht sie geholt hätte. Jessy kennt sich mit den alten Duskwood-Legenden aus und hat mich darüber aufgeklärt. Also haben wir die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass der Mann ohne Gesicht unsere nächste Spur sein könnte."
"Sie glaubten, dass eine Legendenfigur Miss Donfort entführt hat?" Der Hauch eines Lächelns war unter Alans markantem Schnauzbart zu erkennen. Je länger sie ihn betrachtete, desto mehr erinnerte der hochgewachsene Polizist sie an Magnum P. I. Ihre Eltern hatten diese Serie gefühlte hundert Mal angesehen.
"Nein, natürlich nicht. Aber wir dachten, dass es ein Nachahmer sein könnte, oder diese Figur irgendetwas symbolisieren sollte. Wir sind jedenfalls dieser Spur weiter nachgegangen. Ein paar Tage nach der ersten Nachricht von Thomas Miller bekam ich dann den ersten Drohanruf. Jemand hat von mir verlangt, mich aus der Sache herauszuhalten und mit Konsequenzen gedroht, wenn ich mich nicht daran halte. Es war nur einer von mehreren solcher Anrufe. Der zweite davon folgte nach etwa einer Woche aus dem Wald. Da hat der Täter sich mir das erste Mal mit der Maske gezeigt, die eindeutig den Mann ohne Gesicht dargestellt hat."
"Und haben Sie die Stimme des Anrufers erkannt?"
"Nein, er hat einen Stimmverzerrer benutzt."
"Ich verstehe."
"Beim nächsten Anruf filmte er Cleo heimlich beim Joggen im Wald, weil ich auf die vorigen Drohungen nicht reagiert habe. Dieses Video leitete er dann auch an die anderen weiter. Uns wurde zunehmend klar, dass der Wald eine zentrale Rolle in dem Fall spielte und Hannah sich dort irgendwo aufhielt. Ein Hinweis auf diese These war beispielsweise, dass Cleos Mutter einen Drohbrief erhielt, kurz bevor die Waldsuche stattfinden sollte. Darin hat der Täter wörtlich gefordert, dass wir uns vom Wald entfernt hielten. Außerdem wussten wir auch, dass Hannah sich mit der Legende auseinander gesetzt hat. Auf ihrem Handy befand sich ein Foto des Zeichen des Raben an einem Baum. Also dem Zeichen, mit dem in der Legende der Mann ohne Gesicht die Türen der Sünder markiert, bevor er sie in den Wald bringt. Das alles bestätigte uns, dass wir auf der richtigen Fährte waren."
Alan hob plötzlich eine Hand, um Mya am weitersprechen zu hindern.
"Sie sagten gerade, dass sich ein Foto aus dem Wald auf Miss Donforts Handy befunden hat. Ich dachte, das Mobiltelefon sei mit Miss Donfort verschwunden?"
"Ja, richtig."
"Und wie kamen Sie dann an das Foto?"
Wie schon beim Rezept musste sie sich nicht einmal entscheiden, ob sie für Jake lügen sollte oder nicht, denn die Cloud hatte sie gehackt. Zwar auf seine Anweisung, aber trotzdem absolut freiwillig und selbstständig. Ihre Zunge klebte unangenehm an ihrem Gaumen.
"Das würde ich auch gerne auslassen."
Für einen kurzen Moment verzog Alan das Gesicht. "In Ordnung. Sie haben also im Laufe von etwa einer Woche herausgefunden, dass Miss Donfort Psychopharmaka einnahm, mehrere Drohanrufe erhalten und festgestellt, dass der Täter mit einer alten Duskwoodlegende und den Wäldern in Verbindung gebracht werden will. Habe ich das korrekt zusammengefasst?"
"Ja."
"Sie dürfen sich gerne am Wasser bedienen, wenn Sie möchten." Noch während er sprach nahm er bereits zwei der Gläser, füllte sie auf und schob eines zu Mya hinüber, die es am liebsten in zwei Zügen geleert hätte. Ihre Hände zitterten. Das war ihr bislang nicht aufgefallen. "Sprechen Sie weiter."
"Wir haben im Laufe der Ermittlungen herausgefunden, dass Hannah sich nicht nur mit der Legende auseinander gesetzt hat, sondern auch mit mit einem Vorfall, der etwa zehn Jahre her ist und mit einer Jennifer zu tun hatte."
"Sie meinen damit den Fall Jennifer Hanson, die Opfer eines Unfalls wurde und deren Leiche man später im Wald fand."
"Ganz genau." Mya warf ihre Zurückhaltung über Bord und trank das Glas Wasser hektisch leer. "Cleo konnte sich an diese Geschichte erinnern. Hannah hatte wohl die Hinterbliebenen besucht, beziehungsweise, Iris Hanson."
"Möchten sie sich dazu äußern, wie sie davon erfahren konnten, dass Hannah sich mit dem Unfall befasst hat?"
Myas schuldbewusster Blick schien Alan zwar auszureichen, um sie zu verstehen, doch er deutete mit dem Kopf auf das Aufnahmegerät. "Bitte beantworten Sie die Frage, Miss Graham."
Wollte sie sich denn dazu äußern? Wollte sie ihm wirklich von den Notizen auf Hannahs Handy und der Therapiesitzung erzählen? Es war das erste Mal, dass sie die Möglichkeit hatte, die Schuld von sich zu schieben, aber nur zu dem Preis, dafür die Wahrheit zu sagen und somit Jake anzuklagen. Äußerte sie sich nicht dazu, beging sie Strafvereitelung. Da war sie wieder, die Frage nach Vernunft oder Loyalität.
Sie oder Jake.
"Nein. Möchte ich nicht."
"Na gut. In Ordnung."
"Hannah hat sich jedenfalls verfolgt gefühlt. Das war wohl in der Vergangenheit bereits der Fall und hat irgendwann kurz vor ihrem Verschwinden wieder begonnen. Die Antidepressiva passten gut in dieses Bild hinein. Und ja, auch zu diesen Quellen möchte ich nichts sagen."
"Dass Sie so viele Stellen auslassen, wirft doch einige Fragen auf, Miss Graham." Alan zog eine Braue hoch.
"Aber es ist mein Recht zu Schweigen, wenn ich mich andernfalls selbst belasten müsste, oder nicht?"
"Das ist es. Wir werden später darauf zurückkommen."
Seufzend nahm Mya diese Aussage zur Kenntnis. "Was ich eigentlich damit sagen will ist, dass Hannah sich von einem Mann verfolgt gefühlt hat, der angeblich bei dem Vorfall mit Jennifer im Wald gewesen ist und sie beobachtet hat. Wir dachten erst, dass sie vielleicht denkt, Jennifers Mörder würde ihr nachstellen, aber da Jennifers Tod die Folge eines Unfalls war, ergab das keinen Sinn. Wir konnten uns auch eine ganze Zeit nicht zusammenreimen, welchen Mann sie nur meinen könnte. In der Zwischenzeit kamen wir dann darauf, dass die Initialen, die auf dem besagten Armband standen und die Thomas für die Initialen von Hannahs Affäre gehalten hat, für Jennifer Hanson standen, und dass sie das Armband im Pfandleihhaus gekauft hat. Später fand Jessy heraus, dass im Navi von Hannahs Auto die Adresse von Iris Hanson eingespeichert war, der sie daraufhin einen Besuch abstattete.  Sie bestätigte Jessy, dass Hannah kürzlich bei ihr war und nach dem Unfall gefragt hat, und auch ihr hat sie erzählt, dass der Mann von damals sie verfolgen würde."
"Sie haben ganze Arbeit geleistet", gestand Alan und fuhr sich durch den Bart. "Hat der Täter in der Zwischenzeit weiterhin Kontakt zu Ihnen gesucht?"
"Mehrfach." Mya schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein. Es war unfassbar heiß in diesem kleinen Zimmerchen. "Dass er Cleo gefilmt hat, hat uns nicht abgeschreckt. Wir dachten, dass er nur mit leeren Drohungen um sich wirft, weil er sich ertappt fühlt. Bis er dann Jessy angegriffen hat, während ich mit ihr am Telefon war. Sie wurde nicht ernsthaft verletzt, aber der Täter hat darauf geachtet, dass ich ihn sehen kann. Er hat Jessy angegriffen, um mir zu beweisen, dass er es ernst meint. Aber auch das hat uns nicht abgehalten. Es hat uns sogar eher noch weiter angetrieben."
"Können Sie mir vielleicht etwas hierzu sagen?" Ohne Mya aus den Augen zu lassen, schob er ihr zwei Fotos herüber. Sie zeigten das Zeichen des Raben an Richys Garage und Jessys Wohnungstür.
"Ja."
"Ich höre."
"Richy wurde als erster markiert. Die Legende besagt, dass alle Sünder vom Mann ohne Gesicht markiert werden und in der ersten Neumondnacht des Jahres von ihm mitsamt Familie in den Wald verschleppt werden. Richy hat das aber nicht besonders ernst genommen. Heute wissen wir auch, weshalb. Damals habe ich mir aber auch nichts dabei gedacht. Als Jessy dann markiert wurde, was erst kurz vor dem Ende des Ganzen geschah, waren alle schon so angespannt, dass sich niemand mehr aus dem Haus getraut hat. Und dann wurde Richy plötzlich angegriffen, während er mit mir am Telefon war, und verschwand. Er hat behauptet, Hilfeschreie aus dem Wald zu hören, bevor es passiert ist."
"Bevor wir weiter über Richard Roger reden, möchte ich Sie noch auf etwas anderes ansprechen."
"Nämlich?"
Alan drehte den Kugelschreiber in seinen Fingern, und Mya hätte ihm den Stift am liebsten aus der Hand gerissen, so nervös machte sie diese verdammte Bewegung.
"Was können Sie mir zu dem anonymen Anruf sagen, der uns zum Hanson Haus geführt hat?"
"Jessy hat in einigen alten Unterlagen eine Adresse und Telefonnummer von Michael Hanson gefunden. Die Telefonnummer war nicht mehr aktuell, aber sie und Thomas beschlossen, die Adresse zu besuchen, in der Hoffnung, Michael Hanson dort anzutreffen und ihm Fragen über die Nacht von Jennifers Tod stellen zu können. Stattdessen fanden sie ein verlassenes Gebäude, in dessen Inneren sich nicht nur ein regelrechter Altar voll Fotos der Gruppe, Notizen und Rachewünschen befand, sondern auch Hinweise darauf, dass dort jemand gefangen gehalten worden war."
"Hinweise wie zum Beispiel?"
Mya wünschte sich plötzlich das Drehen des Kugelschreibers wieder herbei, denn Alan war darauf umgestiegen, ihn in einer Tour zu klicken. Machte er das mit Absicht? Sie presste die Lippen aufeinander.
"Beispielsweise Panzertape, Stricke, Lebensmitteldosen, Pappschachteln und Kerzen. Als hätte man dort jemanden gefesselt und hin und wieder gefüttert. Es war widerlich. Jessy und Thomas konnten das Meiste davon fotografieren, bevor der Täter sie plötzlich überraschte. Es gelang ihnen zu fliehen, woraufhin Lilly die Polizei verständigte, aber die hat sich so viel Zeit gelassen, dass der Täter in aller Ruhe alle Beweise einpacken konnte und wir am Ende als Idioten dastanden, die die Polizei auf den Arm nehmen wollen."
Alan räusperte sich wie ertappt und nickte, ging aber auf Myas Stichelei nicht weiter ein. Also fuhr sie ungefragt fort.
"Bevor Richy angegriffen wurde und verschwand, hat die Gruppe entschieden, auf unbestimmte Zeit Duskwood zu verlassen. Sie fühlten sich nicht mehr sicher. Deswegen hatten sie in einigen Kilometern Entfernung eine Ferienhütte im Wald gebucht, um sich dort zu verstecken und Abstand von den Geschehnissen zu gewinnen. Nach dem Vorfall im Hanson Haus haben die verbliebenen vier ihre Sachen gepackt und sind zu der Hütte gefahren. Dan lag da noch im Krankenhaus, kam später aber nach. Auf dem Weg dorthin hat Thomas uns dann erzählt, dass er Hannahs Handy im Hanson Haus gefunden und mitgenommen hat."
"Nur um kurz die Reihenfolge der Geschehnisse klarzustellen: Fand Miss Hawkins Angriff vor oder nach ihrem Besuch bei Iris Hanson statt?"
"Davor."
"Und Mister Rogers Angriff?"
"Ebenfalls."
"Gut. Mister Miller fand also Miss Donforts Handy im Haus von Michael Hanson. Was haben Sie damit gemacht?"
Mya gestikulierte vage, weil sie die Frage selbsterklärend fand. Was hätten sie damit schon machen sollen?
"Aufgeladen und eingeschaltet."
"Hatten sie den PIN?"
"Nein."
Ach, darauf wollte er hinaus. Er lehnte sich im Stuhl zurück, die Arme streng vor der Brust verschränkt.
"Und wie haben Sie dann Zugriff auf das Gerät bekommen?"
Sie oder Jake?
"Auch dazu möchte ich nichts sagen."
Ihre Stimme versagte beinahe und Alans Blick verriet ihr, dass er ihr langsam aber sicher nicht mehr glaubte, dass jede Gegebenheit, zu der sie nicht aussagen wollte, wirklich auf ihrem Mist gewachsen war.
"Das habe ich fast befürchtet", murmelte er heiser.
Nicht verunsichern lassen. Einfach nicht darüber nachdenken.
"Darf ich weiter erzählen?", fragte sie.
"Bitte."
"Auf Hannahs Handy fanden wir dann weitere Hinweise. Der Verlauf in ihrer Suchmaschine zeigte, dass sie die Website von Roger's Garage und auch die vom Pine Glade Fest besucht hat."
"Für das Protokoll: Roger's Garage ist die Autowerkstatt von Richard Roger, in der auch Jessica Hawkins angestellt war. Warum war das für sie interessant?"
"Weil wir von einer Telefonliste, die Hannahs letzte Anrufe vor ihrem Verschwinden festhielt, schon wussten, dass sie dort Kundin war und uns dadurch Richys Aussage bestätigt wurde, dass Hannah ihr Auto bei ihm hat reparieren lassen."
"Die Telefonliste haben Sie auf Hannahs Handy gefunden?"
"Nein. Die hatten wir schon vorher."
"Woher?"
Irgendwie war Mya davon ausgegangen, dass Lügen mit jedem Mal leichter auszusprechen waren, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Es war wie Gift, das sich mehr und mehr in ihrem Körper verbreitete, ihn lähmte, ihre Atmung erschwerte.
"Ich möchte mich dazu nicht äußern."
"Mya...- Miss Graham."
"Ich möchte nichts dazu sagen, Mister Bloomgate."
"In Ordnung. Wessen Nummern befanden sich noch auf der Telefonliste?"
"Die von Thomas Miller, Philip Hawkins, Ihre und, wie wir erst später herausfanden, Amy Bell Lewis."
"Für das Protokoll: Die Zeugin deutet auf mich, Alan Bloomgate, im Zusammenhang mit den Nummern auf Hannah Donforts Telefonliste. Was konnten Sie über die letzten Telefonate erfahren?"
Mya hob den Kopf, fühlte sich plötzlich selbstsicher. Es mochte schon sein, dass sie und ihre Freunde nicht immer den besten Weg während der Ermittlungen gewählt hatten, aber auch die Polizei hatte Fehler begangen. Inklusive Alan selbst. Sie erwiderte seinen durchdringenden Blick.
"Roger's Garage wollte ihr mitteilen, dass ihr Auto fertig ist. Thomas rief sie nach dem Streit an, um das Gespräch mit ihr zu suchen und sich bei ihr zu entschuldigen. Philip Hawkins wiederum wurde von Hannah angerufen, weil sie ihn um ein Treffen bitten wollte, zu dem es schlussendlich nie kam. Deswegen konnte Phil mir nicht genau sagen, weshalb Hannah sich mit ihm treffen wollte. Wir denken, dass es um das Armband ging, denn Phil hatte es beim Pfandleihhaus abgegeben. Was Hannah von Ihnen wollte, muss ich Ihnen wahrscheinlich nicht erklären. Sie wollte Hilfe, weil sie dachte, endlich einen Anhaltspunkt zu haben, um die Identität ihres mysteriösen Verfolgers am Waldrand herauszufinden. Und zu Amy Bell Lewis möchte ich später kommen."
"Ich möchte sowieso vorher noch auf den Inhalt von Miss Donforts Handy zurückkommen." Alan erhob sich und öffnete die Tür des Verhörraums, vor der zwei Beamte Wache standen. "Jeremy, bitte lassen Sie uns doch zwei Tassen Kaffee bringen."
Dann setzte er sich wieder. Kaffee? Spürte er Myas Nervosität? Nun, sie brauchte sich nichts vorzumachen. Ein kurzer Moment der Stärke reichte nicht aus, um zu verhindern, dass ihr die Anspannung wahrscheinlich quer durch ihr Gesicht und über ihre ganze verkrampfte Körpersprache geschrieben stand. Insgeheim war sie Alan dankbar dafür, auch wenn sie noch immer befürchtete, dass sie den Kaffee nicht lange bei sich behalten würde. Vielleicht hätte sie vorher etwas Kleines essen sollen.
"Was haben Sie noch auf dem Handy gefunden?", wollte Alan wissen.
Mya überlegte kurz. "Hannahs letzte Chatverläufe. Die meisten davon waren nicht relevant, aber dann war da dieses Gespräch mit Amy. Wir wussten ja schon vorher, dass Amys Tod mit Hannahs Entführung in Verbindung stand. Spätestens, seit sie auf der Anrufliste aufgetaucht ist. Und weil Amys Leiche am Gedenkstein von Jennifer Hanson aufgefunden wurde, konnten wir uns eine Verbindung zwischen allen drei Fällen herleiten."
"Was war in diesem Chat enthalten?"
"Eine weitere Bestätigung dafür, dass Hannah starke Medikamente einnahm. Amy war der Ansicht, dass diese Tabletten der Grund dafür waren, dass Hannah sich überhaupt verfolgt fühlte, weil sie die einzige war, die den Mann sehen konnte. Wir sind aber relativ bald davon ausgegangen, dass die Tabletten dafür gesorgt haben, dass Hannah ihn eben nicht mehr sah. Thomas war nämlich über die gesamte Zeit ihrer Beziehung nie aufgefallen, dass Hannah sich verfolgt fühlte oder psychische Probleme hatte."
"Was konnten sie dem Chat noch entnehmen?"
"Dass Hannah damals das Unfallauto gelenkt hat."
Alan nickte nur stumm. Thomas hatte Hannahs Handy schon vor einigen Tagen der Polizei überreicht, also wusste die bereits, was sich darauf befand. Weil der Polizist nichts sagte, sprach Mya weiter.
"Wir haben uns den gesamten Inhalt des Handys angesehen. Auch, ob sich auf ihrer Navigations-App irgendwelche Hinweise befanden. Dabei wurde leider die GPS-Ortung aktiviert, woraufhin der Täter uns über Hannahs Handy kontaktierte."
"Sie meinen, dass der Täter konkret Sie kontaktiert hat. Richtig?"
Die unerträgliche Hitze in Myas Körper wurde durch ein eiskaltes Frösteln unterbrochen.
"Ja. Richtig."
"Was hat er zu Ihnen gesagt?"
"Dass er eine Falle ausgelegt hat, in die ich hineingelaufen sei. Er meinte damit die Ortungsfunktion. Die Gruppe hielt sich in der Hütte für sicher, aber da sich Hannahs Handy darin befand, kannte er ihren Standort. Ich meine, die Wahrheit ist, dass Richy diese Hütte selbst gemietet hat und die ganze Zeit über wusste, wo die anderen sich aufhielten. Es war Teil des Schauspiels. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Er hat schließlich auf Hannahs Handy angerufen und verkündet, dass er jetzt kommen werde, um es zu beenden, nachdem er mir nach dem Fund im Hanson Haus bereits angedroht hatte, jeden einzelnen aus der Gruppe zu töten und mich dabei zusehen zu lassen, bevor er auch mich holen wird."
"Wie hat die Gruppe darauf reagiert?"
Es klopfte an der Tür und ein junger Polizist trat ein. Wortlos stellte er die beiden Kaffeetassen, sowie einige Döschen Kaffeesahne in der Tischmitte ab und verließ den Verhörraum wieder. Alan deutete einladend auf eine der beiden Tassen, die Mya daraufhin an sich nahm und zwei der Döschen hineinkippte.
"Erst hatten sie Angst und wollten fliehen. Aber dann ist die Stimmung umgeschlagen. Sie hatten es satt, auf der Flucht zu sein und Tag und Nacht um ihre Sicherheit fürchten zu müssen. Also entschieden sie, alle Eingänge der Hütte zu überwachen und den Mann ohne Gesicht zu stellen."
"Woher kam der Stimmungswandel?"
Es war wahrscheinlich kein Geheimnis mehr, und um die Geschichte in einem logischen Kontext abschließen zu können, brachte es nichts, dieses entscheidende Detail zu verschweigen.
"Jemand von ihnen hat eine Schusswaffe mitgebracht."
"Wer?"
"Lilly Donfort."
"Und weil sie eine Pistole im Haus hatten, fühlten sie sich bereit, sich einem potentiellen Entführer und Mörder zu stellen?"
"Ja."
"Wer von Ihren Freunden führte die Waffe?"
"Dan. Er hatte als einziger Erfahrung damit."
"Was geschah dann?"
Mya trank einen vorsichtigen Schluck des Kaffees und musste sich beim Schlucken bemühen, nicht zu würgen. Wie konnte einem so heiß sein, dass man kurz vor einem Schweißausbrüchen stand, und gleichzeitig so kalt, dass der ganze Körper von einer Gänsehaut bedeckt war?
"Wir erhielten von einer unbekannten Nummer den Link zu der Webcam, die ich Ihnen geschickt habe. Darauf konnten wir Hannah und Richy sehen, die gefesselt und scheinbar betäubt oder bewusstlos waren. Das hat mich gewundert, weil der Täter mir im Drohanruf nach dem Vorfall im Hanson Haus gesagt hat, dass er Richy getötet habe."
"Für das Protokoll: Ich, Alan Bloomgate, bestätige, dass Miss Graham mir den Link hat zukommen lassen. Sie erinnern sich, dass ich mit Hilfe eines Kollegen ermitteln konnte, dass sich Miss Donfort und Mister Roger in der Eisenbruchmine aufhielten. Sie haben mich jedoch schon früher in die richtige Richtung geleitet. Zwar nicht konkret in die Mine, aber zum Wasserfall am Grimrock. Wie kamen Sie darauf?"
"Auf der Website des Pine Glade Festes war vermerkt, dass die Kutschenfahrt eine andere Route nehmen musste, weil das Gebiet am Wasserfall gesperrt war. Über Cleos Mutter, die das Fest maßgeblich organisiert, haben wir erfahren, dass ein Giftstoff im Wasser gefunden wurde und der Grimrock deswegen abgesperrt worden war. Das deckte sich mit den beiden Fässern in Michael Hansons Haus, die mit einer Giftwarnung versehen waren."
Alan runzelte die Stirn. "Das alleine hat Ihnen ausgereicht, um den Verdacht zu äußern, dass Hannah Donfort sich am Grimrock aufhielt?"
"Nein. Aber..."
Jake hatte sich in Richys Handy eingehackt und das Mikrofon aktiviert, über das die Gruppe das Rauschen des Wasserfalls gehört hatte. Konnte man über diese Straftat hinwegsehen, wenn man betonte, dass er von einer akuten Gefahr für Hannahs Leben ausgegangen war? Wollte Mya es wirklich darauf ankommen lassen?
"Aber ich möchte dazu nicht mehr sagen."
"Na schön. Der Täter drohte also, Ihre Freunde aufzusuchen und ihnen etwas anzutun. Machte er die Drohung war?"
Sie hörte die Schüsse noch immer in ihren Ohren, wenn sie die Augen schloss.
"Ja. Er ist tatsächlich bei der Hütte aufgetaucht, hat aber die Gruppe erst einmal aus der Distanz beobachtet und sich vorsichtig angenähert. Irgendwann hat es den anderen gereicht und sie wollten ihn auf der Terrasse abfangen. Ich war derweil mit Jessy am Telefon und konnte sehen, wie der Täter es geschafft hat, eben doch in die Hütte einzudringen. Er hat Jessy angegriffen, aber Dan ging dazwischen, indem er zwei Mal auf den Einbrecher schoss und ihn einmal traf. Der ist daraufhin geflohen und das war der entscheidende Moment."
Das erste Mal, seit Mya den Verhörraum betreten hatte, sah sie ernstes Interesse in Alans Gesicht. Sie hatte bisher geglaubt, dass die Polizei den Fall bereits gelöst hatte und die Zeugenaussagen nur pro forma stattfanden, um ihre Ermittlungen zu bestätigen, aber nun schien es, als fehlten der Polizei nicht nur der Schlüsselmoment dieses Falls, sondern auch das letzte Puzzlestück, um alle drei Fälle in einen kausalen Zusammenhang zu stellen - und Mya konnte ihnen beides liefern.
"Was meinen Sie mit 'entscheidender Moment'? Was hat dieser Moment entschieden?" Alans eben noch verschlossene Haltung änderte sich, als er sich nach vorne lehnte und auf dem Tisch abstützte. Er musterte Mya eingehend, ein erwartungsvolles Funkeln lag in seinen Augen, als wüsste er, dass sich das Bild gleich vervollständigen würde.
"Naja. Wir sind all die Zeit davon ausgegangen, dass Michael Hanson der Entführer ist. Es passte alles zusammen. Der Rächer, der die Sünder, also Hannah und Amy, in den Wald lockt, um den Tod des eigenen Kindes zu vergelten. Der Zeitpunkt, einen Tag vor dem Pine Glade Fest, auf dem Jennifer Hanson zehn Jahre zuvor starb. Der traumatisierte Vater, der kurz nach dem Tod seiner Tochter plötzlich verschwand. Es war so eindeutig. Und trotzdem haben wir uns geirrt."
"Michael Hanson für die Entführung verantwortlich zu machen war demnach Mister Rogers Plan gewesen, verstehe ich das richtig?"
"Ja."
"Erzählen Sie mir, wann Sie feststellten, dass es nicht Michael Hanson war, der Miss Donfort entführt hat", forderte Alan sichtbar gespannt.
"Nach dem Angriff in der Hütte hat der Hacker das Signal ermittelt, von dem aus die Webcam-Übertragung gesendet wurde, und konnte uns deswegen sagen, dass Hannah und Richy sich in der Eisbruchmine aufhielten. Nach einiger Recherche fand er heraus, dass sich am Grimrock in Duskwood ein Eingang in die Mine befindet, von dem wohl nicht viele Leute wissen."
"Das perfekte Versteck."
"Ja, stimmt. Dann kontaktierte mich der Täter ein letztes Mal über die unterdrückte Nummer. Er forderte ein Treffen mit mir am Grimrock. Im Gegenzug würde er Hannah und Richy unversehrt gehen lassen."
Die Mimik des Polizeichefs wanderte langsam von interessiert zu erstaunt zu ungläubig. "Wie haben Sie darauf reagiert?"
"Ich habe versucht, den Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel zu erfahren, aber er stellte nur nochmals seine Forderung und ging offline. Also habe ich die Gruppe eingeweiht. Ich war bereit, nach Duskwood zu fahren, wenn das bedeutete, Hannah und Richy zu retten, aber bis auf Thomas waren alle dagegen."
"Sie sind also nach Duskwood gefahren?"
Mya lächelte bitter und senkte den Blick. Nein. Sie hatte sich mal wieder Jakes Meinung aufs Auge drücken lassen, indem er sie in eine Diskussion verwickelt hatte, um Zeit zu gewinnen.
"Nein, das bin ich nicht", presste sie hervor. "So weit kam es nicht mehr."
"Weshalb?"
Sie schüttelte den Kopf, aufs Neue fassungslos darüber, wie es nur so weit kommen konnte. Nicht nur bezogen auf Jake, sondern generell. Wie es passieren konnte, dass eine Gruppe normaler, junger Leute so tief in einen Entführungsfall verwickelt wurde, dass es ein jedes ihrer Leben für immer verändern würde. Verändern, oder sogar zerstören.
"Der Hacker entschied, an meiner Stelle zu gehen. Er sagte, dass ein Treffen mit Michael Hanson, den wir zu dem Zeitpunkt weiterhin für den Täter hielten, viel zu gefährlich sei. Sein Plan war es, stattdessen über einen anderen Zugang die Mine zu betreten, Hannah und Richy zu befreien und mit ihnen zu fliehen, ohne, dass Michael Hanson es bemerkt. Meine Aufgabe bestand lediglich darin, seinem Angebot zuzustimmen, um ihn auf eine falsche Fährte zu locken. Der Vorteil des Hackers bestand darin, dass er eine Karte des Höhlensystem hatte und besser über das Minensystem Bescheid wusste als ich. Außerdem konnte er den Standort von Richy und Hannah ziemlich genau lokalisieren, sodass er im Gegensatz zu mir nicht nach ihnen hätte suchen müssen. Also stimmte die Gruppe zu und er machte sich auf den Weg. Wir blieben währenddessen im Schriftkontakt zu ihm."
"War das bevor oder nachdem auch wir die Eisenbruchmine über das Video identifizieren konnten?"
"Das war davor. Als Sie bei der Mine ankamen, befand sich der Hacker bereits darin."
Abermals fuhr Alan sich mit Daumen und Zeigefinger über den Schnauzer. "Verstehe. Wurde er denn fündig?"
"Allerdings. Er fand das ganze Sammelsurium an Fotos und Dokumenten wieder, die aus dem Hanson Haus verschwunden waren. Mit dabei lag auch ein Brief. Der Abschiedsbrief von Amy Bell Lewis. Sie hat ihn Hannah gewidmet und ihr erklärt, dass sie mit den Schuldgefühlen nicht länger leben kann. Außerdem ging aus dem Brief hervor, dass der Mann ohne Gesicht sie ebenfalls verfolgte."
"Das ist ein sehr interessantes Detail, Miss Graham", gestand Alan, und Mya fühlte sich sofort, als hätte sie irgendetwas verraten, was besser ein Geheimnis hätte bleiben sollen. "Diesen Brief haben wir nie zu Gesicht bekommen, obwohl ich den Raum, in dem sich die Hinweise befanden, auch entdeckt habe."
Mya zuckte daraufhin nur mit den Schultern. "Ab da ging ja auch alles Schlag auf Schlag. Hannah kam Ihnen entgegen, während ich mit Ihnen am Telefon war. Ich habe natürlich sofort die Gruppe darüber informiert und den Hacker auch. Wir dachten, es sei vorbei."
"Aber das war es nicht." Alan formulierte es gar nicht erst wie eine Frage.
"Nein." Mya schnaubte, abermals kopfschüttelnd. Ihre rechte Hand umklammerte die Kaffeetasse, als könnte diese ihr Halt bieten. "Thomas stellte fest, dass die Webcam-Übertragung sich nicht verändert hatte. Man sah in ihr noch immer Hannah und Richy, gefesselt, geknebelt und betäubt. Aber ich hatte mit eigenen Augen gesehen, dass Hannah frei war. Uns wurde klar, dass die vermeintliche Kameraübertragung gar keine war, sondern eine vorher aufgenommene Aufzeichnung in Endlosschleife. Während der Hacker also versucht hat, die Mine wieder zu verlassen, stieß er auf den Computer, der das Signal aus der Mine sendete und bestätigte unsere Annahme. Es gelang ihm, das Signal zu ändern und eine echte Liveübertragung an uns zu senden. Darauf konnte ich beobachten, wie der maskierte Täter mit sichtbar verletztem Arm durch die Mine ging, sich hinsetzte und die Maske abnahm."
Warum machte es sie plötzlich so wütend? Warum nicht traurig, erschüttert oder enttäuscht? Warum war sie so unfassbar wütend auf Richy und die blöde Legende und diese ganze verfluchte Welt?
"Sie erkannten Richard Roger."
"Ja. Und er rief mich an."
Ihre Finger spannten sich so heftig um die Tasse an, dass sie zu zittern begannen.
"Am Telefon hat er mir dann erklärt, was zehn Jahre zuvor passiert war. Amy und Hannah waren Freundinnen und gemeinsam auf dem Pine Glade Fest. Sie tauchten irgendwann bei Richy auf und baten ihn darum, sie zum Grimrock zu fahren, wobei Richy sich nicht mehr an den genauen Grund erinnern konnte. Aber er hatte schon getrunken und wollte deshalb nicht fahren. Weil Hannah aber im Hof der Werkstatt schon mal einige Runden im Auto gedreht hatte, lieh er ihnen den AMC Gremlin, der zum Verschrotten bei ihm stand, und ließ sie fahren. Als sie zurückkamen waren die beiden verstört und das Auto voll Blut. Sie brachten Richy zur Unfallstelle, wo er entschied, Jennifers Leiche im Wald zu vergraben, um die Tat zu vertuschen. Das war, wo Hannah das erste Mal den Mann ohne Gesicht zu sehen glaubte. Die Wege von Amy und Hannah trennten sich und die drei sprachen nicht mehr darüber. Bis Hannah zehn Jahre später zu Richys Werkstatt fuhr und Amy bei ihr im Auto saß. Da wurde er misstrauisch."
Mya pausierte kurz und holte tief Luft. Ihr ging beim Sprechen der Atem aus, als wäre sie zuvor einen Sprint gelaufen, und sie konnte sich nicht erklären, weshalb.
"Weil er Hannahs Auto zur Reparatur bekam, prüfte er ihr Navi und fand dort die Adresse von Iris Hanson. Da wusste er, dass es Zeit war, sich der Geschichte zu stellen. Das sah Amy aber anders. Sie wollte weiter darüber schweigen und unterstellte Hannah, Wahnvorstellungen durch ihre Tabletten zu haben. Deswegen dachte Richy, dass er Amy zu einem Geständnis bei der Polizei bringen könnte, indem er sich als Mann ohne Gesicht ausgab und ihr nachstellte. Stattdessen ließ es Amy so sehr verzweifeln, dass sie sich das Leben nahm. Er fand Amys Leiche, gerade, als ein Anruf von Hannah auf ihrem Handy einging. Das war der besagte letzte Kontakt auf Hannahs Telefonliste."
"Was wollte Miss Donfort Miss Lewis sagen?" Alans Schlürfen des heißen Kaffees kam ihr unnatürlich laut vor.
"Hannah sprach ihr auf die Mailbox, weil Amy logischerweise nicht abhob. Sie erzählte Amy, dass sie beweisen könne, dass ihr Verfolger real war, und es eine Möglichkeit gab, seine Identität nachzuweisen. Sie hatte ihn nämlich heimlich gefilmt und dabei bemerkt, dass ihm ein Kassenbon aus der Tasche gefallen war. Über die Nummer des Bons hoffte sie, den Käufer zurückverfolgen zu können. Das war, womit sie Ihre Hilfe gebraucht hätte, Mister Bloomgate."
Der Polizeichef nickte. "Ja, so in etwa hat Miss Donfort das damals geschildert."
Auch Alan hätte all das verhindern können. Vielleicht nicht Amys Tod. Aber alles, was dem folgte, wäre vielleicht nie passiert, wenn die Polizei Hannah die Hilfe gegeben hätte, um die sie sie gebeten hatte.
"Richy hat daraufhin Panik bekommen und seinen Plan geändert. Er ließ den Abschiedsbrief verschwinden, um Mays Tod nach Mord aussehen zu lassen, legte Amys Leiche vor Jennifers Gedenkstein ab, um die Verbindung zu dem Unfall herzustellen, und verabredete sich über Amys Handy mit Hannah zu einem Treffen vorm Hanson Haus, wo er sie letztlich entführte. Sein Plan war es, seine eigene Entführung zu inszenieren, auf den gefälschten Überwachungskameras zu zeigen, dass er sich aus den Fesseln lösen kann und Hannah befreit, und zum Schluss ein Feuer zu legen, in dem alle Beweise vernichtet werden und der Entführer, der angebliche Michael Hanson, stirbt."
Da ging Alan endlich das Licht auf. Man sah es ihm regelrecht an. "Mister Roger hatte eine Schusswunde. Auf den zuvor gefilmten Aufnahmen aber wäre der Täter unverletzt gewesen."
"Genau. Und bei Richys Befreiung hätten wir festgestellt, dass er an der exakt selben Stelle eine Schusswunde hat, wie unser Täter."
"Ein unfassbar gerissener, kalkulierter Plan." Kopfschüttelnd lehnte er sich im Stuhl zurück.
"Richy hat Jessy noch kontaktiert und ihr gestanden, der Täter zu sein. Das letzte, was ich auf den Aufnahmen sehen konnte, war, wie er Benzin vergießt und den Minenschacht anzündet. Dann sind die Kameras ausgefallen. Das war alles, was ich weiß."
Ein humorloses Lächeln lag in Alans Gesicht. "Sie tun ja geradewegs so, als hätten Sie nicht gerade drei Todesfälle auf einmal aufgeklärt, Miss Graham."
Wenn das ein Kompliment gewesen sein sollte, konnte Mya sich jedenfalls nicht darüber freuen. Sie fühlte sich elend. Das Gefühl, etwas verraten zu haben, was sie nicht hätte verraten dürfen, ließ einfach nicht von ihr ab. Außerdem hatte sie ihr Wissen zu dem Fall vor der Polizei als ihren größten Trumpf erachtet, und der war jetzt dahin. Alle Karten lagen auf dem Tisch. Zumindest alle, die für die Aufklärung von Hannahs Entführung relevant waren.
"Das war eine sehr umfangreiche Aussage. Vielen Dank dafür", fuhr Alan fort.
"Darf ich gehen?"
Er lachte leise. "Noch nicht. Ich hätte noch ein paar Fragen."
Damit hätte sie rechnen müssen. "Okay."
"Wie bereits gesagt, wussten wir darüber Bescheid, dass ein gesuchter Hacker Ihre Ermittlungen unterstützt. Ich habe mich ein wenig über ihn und seinen Fall erkundigt und frage mich noch immer, was jemand wie er mit einem Fall wie Hannah Donforts zu tun hat. Wie kam es dazu, dass er Ihnen half?"
Das Eis wurde dünn. Viel zu dünn für Myas Wohlbefinden. "Er und Hannah hatten sich wohl vor einigen Jahren online kennengelernt, aber der Kontakt ist irgendwann abgebrochen. Kurz vor ihrem Verschwinden bat Hannah ihn um Hilfe."
"Er hat viel riskiert. Dem FBI entkam er in der Nacht von Miss Donforts Befreiung nur mit viel Glück. Eine reine Internetbekanntschaft begründet für mich kein so hohes Risiko."
Mya zog eine Braue hoch. "War das eine Frage?"
"Wissen Sie, in welcher Beziehung Miss Donfort zu dem Hacker steht?"
"Spielt das für den Fall eine Rolle?"
Von Myas plötzlicher Abweisung sichtlich verwundert, legte der Polizist die Stirn in Falten. "Nein. Sie müssen sich dazu tatsächlich auch nicht äußern."
"Dann werde ich das nicht tun. Hannah kann Ihnen diese Frage selbst am besten beantworten, denke ich." Sie bemühte sich darum, einen freundlichen Tonfall anzuschlagen, doch die Anspannung ließ sie bissiger klingen als sie es beabsichtigte.
"Eine letzte Frage noch. Ein Gutachten hat ergeben, dass das Auto von Daniel Anderson zum Zeitpunkt seines Unfalls nicht manipuliert war. Allerdings hat das Gutachten Mister Roger erstellt und das Auto ist inzwischen verschrottet. Könnten Sie sich vorstellen, dass Mister Roger die Bremsen des Fahrzeuges manipuliert und es dann vertuscht hat?"
Mya schüttelte schon den Kopf, bevor Alan überhaupt ausgesprochen hatte. "Nein, absolut nicht. Ich traue Richy generell nicht zu, jemandem aus Boshaftigkeit schaden zu wollen."
"In Ordnung. Und sie bleiben dabei, dass sie von Ihrem Auskunftsverweigerungsrecht nur im Bezug auf Straftaten Gebrauch gemacht haben, die Sie selbst betreffen? Ich möchte Sie nochmal daran erinnern, dass das Decken von Straftaten anderer Person Strafvereitelung ist und Sie dafür belangt werden können." Dieser durchdringende Blick. Er gab Mya das Gefühl, als könnte Alan durch ihre Augen direkt in ihre Gedanken sehen und wüsste bereits, dass sie log.
"Ja, dabei bleibe ich."
Er nickte stumm. Eine ganze Weile lang sogar. Fast, als überlegte er, ihr ins Gewissen zu reden. Währenddessen betrachtete er die Akte, schien tief in Gedanken, widmete sich irgendwann wieder Mya.
"Schmeckt Ihnen der Kaffee nicht?" Er zeigte auf die Tasse.
"Nein. Also, doch." Mya erzwang sie ein Lächeln und trank demonstrativ den größten Schluck Kaffee, der irgendwie in ihren Mund passte.
"Gut, Miss Graham. Ich würde gerne Ihr Mobiltelefon an die Kollegen weitergeben. Wir möchten damit einige Ihrer Aussagen prüfen. Ich muss Sie darüber in Kenntnis setzen, dass die Abgabe freiwillig ist und wir das Telefon nicht konfiszieren werden, da es sich nicht um ein Beweisstück handelt." Er brauchte gar nicht auszusprechen, dass eine Verweigerung sie nur umso verdächtiger wirken lassen würde, wenn man bedachte, wie oft sie indirekt zugegeben hatte, sich strafbar gemacht zu haben. Sie hatte schließlich nichts mehr zu befürchten, oder? Der Chat mit Jake war weg, die seltsame Messenger-App gelöscht. Es gab keine Beweise mehr für irgendwelche illegalen Handlungen auf Myas Handy.
Mit zusammengepressten Lippen zog sie das Gerät aus ihrer Jackentasche und schob es über den Tisch hinüber zu Alan.
"0207", sagte sie.
"Entschuldigung?"
"0207. Das ist der PIN."
"Ah", er nickte verständnisvoll und kritzelte die Zahlenkombination auf ein Blatt Papier. "Danke. Sie können es in zwei Stunden wieder holen. Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Miss Graham?"
"Nein. Und Sie, Mister Bloomgate?"
Es war in seinem Gesicht nicht mehr zu deuten, ob sie ihn amüsierte oder nervte. "Aktuell nicht. Bitte bleiben Sie aber trotzdem für uns erreichbar, sollten sich noch weitere Fragen ergeben. Wenn Sie ihr Mobiltelefon wieder abholen, dürfen Sie sich Ihr Aussageprotokoll durchlesen und unterschreiben."
"In Ordnung."
"Auf Wiedersehen, Miss Graham."
Sie stand von ihrem Platz auf, musterte den Polizisten. "Auf Wiedersehen, Alan."
Dann verließ sie den Verhörraum. Sie wollte hier einfach nur noch raus. Raus aus dem klaustrophobischen Zimmerchen, raus aus der Polizeiwache, am liebsten auch raus aus Duskwood. Schnellen Schrittes eilte sie durch den stickigen Flur, zog sich im Gehen die Jacke an, steuerte geradewegs auf den gläserne Schwingtüre zu, hinter der sie Cleo bereits erblickte - als plötzlich eine männliche Stimme nach ihr rief.
"Miss Graham?"
Wie versteinert blieb Mya stehen. Es war nicht Alan gewesen, der nach ihr gerufen hatte. Sie kannte diese Stimme nicht.
Langsam und bedächtig drehte sie sich um und erblickte die Person, die am anderen Ende des Flurs stand und nach ihr gerufen hatte. Gedrungen gebaut, halblanges, nach hinten gegeltes graues Haar. Ein strenger Blick unter tiefen, dunklen Brauen in einem kantigen Gesicht und ein wie maßgeschneidert sitzender, dunkelgrauer Anzug.
"Sie sind Miss Graham, richtig?", fragte der Mann sie.
Sie nickte wie automatisch. "Ähm... Ja?"
Kaum hatte sie geantwortet, kam er schon auf sie zu. "Folgen Sie mir bitte in mein Büro, Miss Graham."
"Darf ich erst einmal wissen, wer Sie sind?" Ihr fiel es gar nicht ein, sich herumschubsen zu lassen, auch nicht von der Polizei. Sich vorzustellen war ja wohl das Mindeste.
Doch der schick gekleidete Herr lächelte nur kühl. "Natürlich, Verzeihung. Ich bin Agent Steven Taylor, FBI. Ich ermittle im Fall Peter Kelly."
Mya hätte schwören können, dass ihr Herzschlag für einen Moment aussetzte. Auch hiermit hätte sie rechnen müssen, aber irgendwie hatte sie es im Laufe der Vernehmung verdrängt.
"Ich muss Sie darum bitten, mich in mein Büro zu begleiten. Mir kam nämlich zu Ohren, dass sie einige interessante Informationen bezüglich AR0SE für uns haben könnten."

Duskwood - Jäger und GejagteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt