Kapitel 14 - Verbündete

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"So." Cleo stellte je ein Weinglas vor Mya und Jessy ab. "Ist jetzt jeder versorgt?"
Ein kollektives Nicken erfolgte als Antwort, woraufhin Cleo am Kopfende des massiven Eichenholztisches Platz nahm.
"Gut. Also nochmal zusammengefasst", begann sie und durchbrach damit das Schweigen der mittlerweile vollständigen Gruppe. "Jake hat seinen Chat mit dir und sein Profil im Messenger gelöscht."
Mya nickte. "Korrekt."
"Hast du schon überprüft, was aus den ganzen Dateien geworden ist, die ihr später mit uns geteilt habt? Also, die Fotos und Texte aus Hannahs Handy und so", meldete Thomas sich zu Wort, doch Mya verneinte seine Frage.
"Aber das ist ein guter Punkt", fügte sie hinzu. "Wir sollten alle überprüfen, ob diese Dateien noch da sind."
"Das stimmt. Wenn er alles gelöscht hat, weil er von deiner Zeugenaussage morgen Wind bekommen hat, wäre es unsinnig, die Beweise nur auf deinem Handy zu löschen." Thomas zückte sein Handy, noch während er sprach, was ihm die anderen gleich taten. Für eine Minute war es wieder still im Wohnzimmer, das durch einen Küchentresen von der offenen Küche getrennt wurde. Warmes, indirektes Licht verlieh dem Raum in der Altbauwohnung, dessen hohe Decke und helle Holzböden ihn noch größer erscheinen ließen, als er es allemal war, eine wohlige Atmosphäre, die die dagegen unbehagliche Stille erträglicher machte.
"Also, ich kann nichts mehr davon finden", verkündete Jessy als Erste.
"Ich auch nicht", murmelte Cleo nachdenklich, und auch Thomas und Dan schüttelten nur die Köpfe. Lilly saß zusammengesunken in ihren Stuhl, ihre leeren Augen fixierten das Display ihres Handys, doch sie blieb stumm. Mya schenkte ihr einen kurzen Seitenblick, bevor auch sie bestätigte, was die anderen bereits festgestellt hatten.
"Nein, alles weg." Sogar Nym-Os und das Hacking-Programm TERMIN8, doch das behielt sie für sich.
"Aber das bestätigt doch irgendwie meine Theorie, dass er es getan hat, um zu verhindern, dass die Polizei Beweise auf unseren Handys findet", meinte Thomas schließlich bestimmt. "Also auch, um dich zu beschützen, Mya."
Dan lehnte sich breitbeinig in seinem Rollstuhl zurück und verschränkte die Arme. "Oder aber, er ist abgehauen und hat jetzt alle Beweise dafür vernichtet, dass eben nicht Mya in irgendwelchen privaten Daten herumgewühlt hat, sondern er."
"Aber dazu müsste die Polizei überhaupt erst wissen, dass jemand in privaten Daten herumgewühlt hat", entgegnete Jessy ihm schnell, "und außerdem wussten sie schon vor Wochen, dass uns ein gesuchter Hacker bei unseren Ermittlungen geholfen hat."
Er zog eine Braue hoch. "Denkst du, die wissen nicht, dass wir Infos hatten, an die wir unmöglich gekommen wären, hätte uns unser mysteriöser Hacker nicht geholfen?"
"Na, aber da sagst du es doch selbst. Die Polizei wusste von Jakes Hilfe." Jessy deutete mit der Hand auf Dan, doch der schüttelte sichtbar ungeduldig den Kopf, als würde er seit Stunden versuchen, ihr zu erklären, was eins plus eins ist und sie würde es dennoch nicht verstehen.
"Kleines, ohne Beweise, dass es wirklich Hackerman war, bleibt nur Mya übrig und die Tatsache, dass irgendwer herumgeschnüffelt hat. Er dreht einfach alles so hin, dass er nur Anweisungen verteilt hat und die illegale Drecksarbeit Mya erledigt hat. So ist er fein raus und was bleibt ist sie als Tatverdächtige. Der Kerl ist doch nicht bescheuert."
"Aber die Polizei auch nicht."
"Abgesehen davon ist es schon möglich, dass ich das ein oder andere Mal Aufgaben von ihm erledigt habe, damit er sich auf Dinge konzentrieren konnte, bei denen ich ihn nicht unterstützen konnte." Mya presste die Worte gegen den inneren Widerstand, Dans Theorie in irgendeiner Form zu bestärken, fast gewaltsam hervor, aber es brachte in der aktuellen Situation nichts, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, so unangenehm sie auch war. "Er hat mir gezeigt, wie es geht und ich dachte, wenn ich Hannah damit helfe... Naja. Ich habe eigentlich gar nicht gedacht."
"Das habe ich irgendwie schon befürchtet", murmelte Jessy, "aber waren es denn wirklich so schlimme Dinge, die du getan hast?"
"Das weiß ich nicht. Ich meine, ich hatte eben Zugang zu anderer Leute Daten, das ist sicher nicht legal."
"Hast du nie über die Konsequenzen nachgedacht?" Cleos Tonfall klang nicht vorwurfsvoll. Eher ein wenig neugierig.
"Doch." Mya nickte verhalten und nippte an ihrem Weißwein. "Ich habe meine Sorgen Jake gegenüber auch ein paar Mal geäußert, aber er sagte immer nur, dass ich mir darüber keine Gedanken machen brauche und er zu verhindern wüsste, dass ich für irgendetwas zur Verantwortung gezogen werde."
"Ja, das hat er am Ende doch auch im Gruppenchat gesagt", erinnerte Jessy sich.
Stimmt. Über das "Ass in seinem Ärmel" hatten sie zum Schluss sogar noch diskutiert, beziehungsweise, Mya hatte es versucht und er war daraufhin offline gegangen, um sich dem Rest des Gesprächs zu entziehen. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass sie ihm gerne ins Gesicht gesprungen wäre, aber seine Dickköpfigkeit hatte sich auch in dieser Situation ein weiteres Mal durchgesetzt. Seine Idee, sich der Polizei auszuliefern, sollten Mya Konsequenzen drohen, hatte sie schon damals nicht gutgeheißen, und würde es auch jetzt nicht tun, stünde es noch zur Debatte.
"Ich hätte außerdem eine andere Frage zu Dans Theorie", meinte Thomas. "Welchen Grund hätte Jake, Mya die Schuld zuzuschieben? Also, das klingt jetzt vielleicht blöd, aber er ist doch sowieso schon auf der Flucht und behauptet ja auch nicht, unschuldig zu sein. Wahrscheinlich ist das, was er in unseren Ermittlungen getan hat, total harmlos gegen seine Verwicklung im Kelly-Fall."
Mya nickte stumm und warf Lilly einen weiteren kurzen Blick zu. Auch sie schien sich ein wenig zu entspannen, immerhin hatte Thomas mit seiner Annahme schon Recht und vielleicht löste das in ihr eine ähnliche Erleichterung aus, wie in Mya. Jake schien in weitaus ernstere Verbrechen verwickelt zu sein, als das Hacken eines Privathandys. Gut, Polizeicomputer und Patientenakten waren auch dabei. Aber was war das schon gegen die Erpressung eines Politikers? Warum sollte er dazu stehen, aber nicht zu der Suche nach seiner eigenen Schwester?
"Ist doch ganz klar." Dans Einwand kam so erwartet wie der Sonnenaufgang am Morgen, was von Jessy mit einem leisen Ächzen quittiert wurde. "Wenn dir eh schon eine ewige Haftstrafe bevorsteht, dann willst du jedes weitere Urteil irgendwie verhindern. Auch Kleinvieh macht Mist und am Ende kriegt er deshalb Lebenslänglich, wer hat da schon Bock drauf?"
Überzeugt schien von dieser Überlegung niemand, doch wirkliche Gegenargumente gab es leider auch nicht. Cleo verzog nur den Mund und machte eine vage Handbewegung.
"Wie auch immer. Halten wir einfach fest, dass Jake entweder verschwunden ist, um Mya zu beschützen, oder um sie zu verraten. Sehe ich das richtig?", fasste sie das bisherige Gespräch zusammen.
"Oder jemand hat ihn dazu gezwungen?", fügte Lilly dem kleinlaut hinzu und blickte fragend durch die Runde.
Thomas runzelte die Stirn. "Aber wer? Und warum?"
"Keine Ahnung, aber möglich wäre es doch."
"Wir sollten jedenfalls nichts ausschließen." Cleo nickte langsam. "Kommen wir aber zu einer anderen Sache, die wir klären sollten."
Angespannt hob Mya den Kopf und betrachtete sie aufmerksam. Was gab es denn noch zu klären?
"Was wird aus den Hinweisen und der Suche nach Jake? Willst du sie fortsetzen?" Ihr erwartungsvoller Blick ruhte geduldig auf Mya, die nicht nur überrascht davon war, dass sie ihr diese Frage stellte, sondern auch davon, dass sie bislang selbst keinen einzigen Gedanken daran verschwendet hatte, weil ihr die Ereignisse des Tages in all dem Chaos regelrecht entfallen waren. Und verdammt, diese Frage war wirklich gut.
Einerseits hatte Mya spätestens, seit ihr bewusst geworden war, dass sie irgendwer beobachtete und ich verdammt nahe kam, bei weitem kein so gutes Gefühl mehr bei der Suche wie noch am Vortag. Jakes plötzliches Verschwinden kam dem nur erschwerend hinzu. Zwar änderte es nichts an den bestehenden Fakten, aber, auch wenn es Mya nicht gefiel, durchaus etwas an ihrer Motivation, herauszufinden, was mit ihm geschehen war. Er lebte und war frei. Das war das Ergebnis, das sie sich von ihrer Suche erhofft hatte, und hatte das jetzt erfahren, ohne Rätsel lösen und sich der unangenehmen Wahrheit über ihn stellen zu müssen. Andererseits ging Mya Lillys Einwand, dass Jake nicht freiwillig alles gelöscht hatte und dann untergetaucht war, nicht mehr aus dem Kopf. Auch wenn es dafür keine Beweise gab, bestand die Möglichkeit, dass er sich in Gefahr befand und Hilfe brauchte, und wenn dem so war, wollte Mya bei Gott nicht diejenige sein, die sie ihm wegen verletzter Gefühle verwehrte. Schlussendlich gab es aber noch einen, sogar deutlich schwerwiegenderen, Grund, weshalb sie dieses Spiel nicht einfach abbrechen konnte.
Sie wollte eine Erklärung.
Sie wollte wissen, wie Jake dort gelandet war, wo er jetzt war, wollte wissen, wie sie dort gelandet war, wo sie jetzt war und allem voran, warum er so plötzlich aus ihrem Leben verschwinden musste. Möglicherweise würden die Rätsel ihr auf die letzte Frage keine direkte Antwort liefern, aber vielleicht einen Ansatz, um sich selbst erschließen zu können, warum alles so gekommen war.
Und ja. Auch ihr Stolz spielte eine gewisse Rolle. Aufgeben lag ihr nicht.
Nach einige Bedenkzeit atmete Mya dann schließlich hörbar ein. "Ja, ich möchte dem weiter nachgehen", verkündete sie so selbstsicher, wie es ihr möglich war, und die gesamte Gruppe nahm es kommentarlos zu Kenntnis, ohne einen neuen Versuch, es ihr auszureden. Im Gegenteil. Cleo schloss direkt an diese Aussage an.
"Gut. Was war noch gleich der aktuelle Hinweis?"
"Das Passwort für den USB-Stick, oder?", fragte Jessy daraufhin. "Oder hast du es inzwischen geknackt?"
"Nein." Mya hatte es allerdings seit ihrem Gespräch mit Jessy auch nicht mehr versucht.
Thomas zog die Brauen hoch, während er einen Schluck Cola trank. "Welches Passwort?"
"Auf dem USB-Stick, den ich vorhin erwähnt habe, befindet sich ein einziger Ordner. Den kann ich aber nicht öffnen, weil er passwortgeschützt ist", erklärte Mya ihm, und damit auch dem Rest der Gruppe. "Ich habe schon alles mögliche versucht, aber bisher hat nichts funktioniert."
"Sollen wir mitraten?"
"Ich bin für jede Hilfe dankbar, auch wenn ich wenig Hoffnung habe, dass wir ohne weiteren Hinweis darauf kommen. Dafür habe ich eine Liste geschrieben, mit allen Dingen, die ich schon versucht habe. Ich kann sie euch nachher schicken, wenn ihr möchtet."
Lillys Stimme war gezeichnet von Erschöpfung und Zweifeln, als sie sprach. Als hätte, was auch immer Jake getan hatte, ihr den letzten Funken Energie geraubt, der ihr seit Hannahs Befreiung noch übrig geblieben war. "Und wo machen wir dann weiter? Ein Passwort zu erraten klingt nicht nach dem vielversprechendsten Plan."
Mya konnte diese Aussage zwar nur bestätigen, aber noch waren sie nicht in einer absoluten Sackgasse angelangt. Ihr Weg hatte sich lediglich geschmälert. "Das stimmt. Dafür habe ich vorhin selbst versucht, etwas über AR0SE zu erfahren und weil das Internet nichts ausspuckt, was uns aktuell weiterhilft, habe ich einen Eintrag in ein Forum geschrieben und um Informationen zu dem Fall und der Hackergruppe gebeten. Unter einem Vorwand natürlich."
"Das ist grandios!" Jessy strahlte. "Haben sich schon Leute gemeldet?"
"Zu erst kamen keine besonders hilfreichen Kommentare", gestand Mya, "aber dann hat ein User den Beitrag kommentiert, der sagte, dass er sich abends bei mir melden würde und mir eventuell helfen kann. Bis jetzt habe ich aber noch keine Nachricht von ihm bekommen."
Kurz bevor Jessy, die Mya nicht im Dunkeln über regennasse Straßen fahren lassen wollte, sie abgeholt hatte, hatte sie den Posteingang ihres Forumprofils überprüft, aber ohne Erfolg. Nun, der Abend war ja noch nicht vorbei. Die Person würde sich schon noch melden.
"Dann können wir jetzt wohl nur abwarten", stellte Cleo fest und ließ die Hände in den Schoß fallen, ehe sie sich erhob und zur Küchenzeile ging. Sie warf einen Blick in den Backofen, aus der der Duft der Lasagne inzwischen die ganze Wohnung flutete, und obwohl Mya bei ihrer Ankunft noch keinen Appetit gehabt hatte, änderte sich das allmählich. Wer konnte zu selbstgemachter Lasagne schon nein sagen?
Cleo begann routiniert, ein Salatdressing mit Kräutern, die sie aus den Töpfen auf ihrem Fensterbrett erntete, zuzubereiten, und ergänzte ihre vorherige Feststellung noch: "Und sobald sich etwas ergibt, sagst du uns Bescheid. Wir finden schon heraus, was hinter all dem steckt."
Jessy nickte eifrig. "Immerhin haben wir auch Hannah gefunden. Wir sind inzwischen Profis."
Dann hob sie ihr Glas und blickte durch die Runde. "Einer für alle?"
Auch Cleo wandte sich um, huschte wieder zurück zum Tisch. Gesammelt, wenn auch unterschiedlich zufrieden mit der Situation wirkend, erhoben alle ihre Gläser. "Und alle für einen."

Duskwood - Jäger und GejagteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt